Dritte Szene


[861] Sophie, Ernst.


ERNST im Begriffe sich zu setzen. Darf ich?

SOPHIE. Wo du willst.


Pause. – Man hört den Sturm.


ERNST. Dieser Sturm hat mich heute die ganze Nacht gestört.

SOPHIE. Ja, sei doch so gut und laß mal oben nachsehen.[861] Es muß irgendwo ein Fensterladen los sein. Es schlägt immer so gegen das Haus. Das ängstigt mich.

ERNST will sich bereitwillig erheben. So – ich will gleich.

SOPHIE. Dann – bis du gehst. Es ist ja nur in der Nacht. Schauert.

ERNST setzt sich wieder. Wie du meinst.

SOPHIE zuckt zusammen.

ERNST. Dir ist kalt, soll ich dir ein Cape ...?

SOPHIE. Oh nein – das ist nur so.

ERNST. Übrigens wir werden tüchtig frieren hier – im Winter. Wir sind doch halb und halb auf dem Lande, – ganz frei von allen Seiten ... Wenn man das nicht gewohnt ist ...


Pause.


ERNST. Wenn nur erst der Winter überstanden ist.

SOPHIE seufzt. Ja.

ERNST. Im Frühjahr wird es hier draußen herrlich sein. Wenn man einen kleinen Garten hat, kommt man dem Frühling näher, man ist – – gleichsam verwandt mit ihm ...

SOPHIE sieht ihn groß an.

ERNST. Freust du dich auch darauf?

SOPHIE müde. Es ist ja schon hinter uns ...

ERNST zögernd. Aber doch immer wieder vor uns? ...


Pause.


SOPHIE streicht ihm durchs Haar. Du, Armer.

ERNST. Arm?

SOPHIE ungeduldig. Du bist doch so angestrengt die ganzen letzten Wochen. Du mußt ja müde sein.

ERNST. Das vergeht rasch.[862]

SOPHIE schnell. Ja und diese kurze freie Zeit sollst du nicht hier versitzen. Nicht – hier bei mir. In der dumpfigen Krankenluft.

ERNST wehrt ab.

SOPHIE. Wirklich. Wozu? – Wenn du nun auch noch krank wirst. Denk nur. Geh spazieren, oder ins Kaffeehaus. Du wirst Bekannte treffen, wirst dich amüsieren. Ein gesunder Mensch gehört zu Gesunden. Das ist keine Erholung – das.

ERNST. Warum kränkst du mich, Sophie?

SOPHIE. Ich sage nur die Wahrheit; es hat ja keinen Sinn. Ich fürchte mich nicht, ich bin kein Kind. Ich kann allein bleiben.

ERNST. Das sollst du nun wirklich nicht mehr.

SOPHIE. Hat Mama das gesagt? Die Gute! Laß sie nur reden. Davon versteht sie nichts. Geh nur!

ERNST warm. Bitte, Sophie. Er erfaßt ihre Hände.

SOPHIE. Was?

ERNST. Bleiben.


Sie sehen sich einen Augenblick in die Augen. Dann stößt Sophie mit plötzlicher Heftigkeit seine Hände von sich und wendet sich ab. In tiefem Schmerze.


SOPHIE. Du denkst ja an sie. Jetzt denkst du wieder an sie. Warum bittest du mich?

ERNST verwirrt. An wen denke ich, an wen? ....

SOPHIE mit gesteigertem Zorn und Abscheu. Geh. In deiner Kanzlei kannst du ja denken an sie, den ganzen Tag. Aber mich verschon doch. Mich verschone. In Verzweiflung. Siehst du denn nicht, daß du mich schändest, wenn du mit diesen Gedanken hereinkommst[863] in mein Zimmer, daß du mich erniedrigst, daß du mich elend machst? Sie bricht in Tränen aus.

ERNST ist aufgestanden. Ich verstehe dich nicht.


Pause.


SOPHIE hebt den Kopf; in plötzlicher Wut packt sie den Fassungslosen beim Arm und zerrt ihn zu sich, so daß er neben ihr auf der Couchette sitzt. Dann streckt sie die Hand aus. Schau. Siehst du sie? Da. Sie sieht gar nicht so klein aus in dem grünen Kleide, was, gar nicht so wie ein Kind. Und ihre schwarzen Augen, wie die glänzen. Siehst du? Warum lächelt sie so? Du mußt es ja wissen, warum sie so lächelt? Lächelt sie immer so? Und das Haar hat sie gelöst. Sie hat so schönes, schweres, schwarzes Haar. Und so blaß ist sie und doch sind ihre Lippen ganz rot. Ganz blutrot. Sie kommt zu dir. Ganz leise. Sie ist doch gar nicht mehr wie ein Kind, – – Ihre Stimme ist ruhiger, sie schöpft Atem und fragt müde. Siehst du sie?

ERNST er hat erst erschrocken auf Sophie gesehen, dann folgt er ihrer Hand und ihrem Blick und während sie die Agla beschreibt, wird sein Auge immer schauender, immer verständnisvoller, er trinkt gierig ihre Worte, fast in Verzückung, lauscht noch nach, als sie geendet hat und sagt auf ihre letzte Frage – gläubig. Ja. Sophie sieht erstaunt und entsetzt sein verzücktes Gesicht und macht ein paar abwehrende Bewegungen mit den Händen, ehe sie in tiefem Schmerz zusammen sinkt. Ernst starrt noch immer nach dem Phantom. Seine Züge werden dunkler und dunkler.


Pause.


ERNST in jäher Erkenntnis. Oh. – Er fährt sich mit der Hand über die Stirn. – Ganz erwachend. Verzeih mir, verzeih!


[864] Er umfaßt Sophieen.


SOPHIE aus Tränen. Nicht, nicht. Ich laß dich. Du liebst sie.

ERNST sich über sie neigend. Nein.

SOPHIE immer ersterbender. Du liebst sie.

ERNST. Ich fürchte mich ja nur so. Hilf mir, Sophie. Schreiend. Ich fürchte mich.

SOPHIE richtet sich auf und schmiegt sich an ihn. Fürchtest du dich? Ich auch. Sie halten sich entsetzt fest.

ERNST vertrauend. Hilf mir.

SOPHIE. Hilf du mir.

ERNST beide rasch in stetem Gestehn. Sie ist immer da, nicht wahr?

SOPHIE nickt. Ja immer.

ERNST bange. Und in der Nacht?

SOPHIE hauchend. Ja.

ERNST. Auch bei dir?

SOPHIE ebenso. Ja.

ERNST. Und sie war doch so klein?

SOPHIE. Ja.

ERNST. Und schwach?

SOPHIE. Ja.

ERNST. Und jetzt?

SOPHIE. Sie ist furchtbar.

ERNST mit Entsetzen. Furchtbar.


Pause.


SOPHIE. Sie hat dich gekauft. Du.

ERNST. Oh.

SOPHIE. Sie hat dich gekauft ...

ERNST. Ich will nicht. Hilf mir.

SOPHIE voll Bedauern. Du ...[865]

ERNST. Halt mich recht fest. So. Und nun sag, was wollen wir tun?

SOPHIE matt. Ich kann nicht mehr.

ERNST. Kämpfen, zusammen?

SOPHIE mutlos. Nein.

ERNST. Also – dann – –

SOPHIE sie tauschen einen Blick, – befreit. Ja.

ERNST. Zusammen?


Sophie nickt. Sie umschlingen sich fest. Pause.


SOPHIE richtet sich auf in namenlosem Entsetzen – tonlos. Du! –

ERNST steht auf.

SOPHIE. Wir können nicht sterben.

ERNST. ?

SOPHIE gläubig. Sie ist ja dort.


Ernst läßt sich schwer in den Stuhl, zu Seiten der Couchette, fallen, die Hände vor dem Gesicht. – Pause, Sturm.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 4, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 861-866.
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