Zweite Szene


[857] Mutter, Sophie.


Mutter geht hin und wieder, rückt die Stühle zurecht, bürstet das Deckchen auf dem runden Tisch ab. Währenddessen tritt von rechts Sophie ein. Sie hat ein weißes lose von den Schultern fließendes Morgenkleid, ist sehr blaß und ängstlich.


SOPHIE erschrocken. Gott, Mama, nun räumst du gar auf. Laß mich doch.

MUTTER sich wendend. Das fehlte noch. Nun, wie hat mein Frauchen geschlafen?

SOPHIE müde. Oh wie immer. Sie will das Deckchen weiter abbürsten.

MUTTER. Warum nicht gar. Wirst du das lassen, du unvernünftiges .... Wirst du schauen, daß du auf dein schiefes Sofa kommst! Eigentlich hättest du gar nicht aufstehen sollen ....

SOPHIE zage. Bin ich denn so krank?

MUTTER. Ganz wie sichs gehört gehts dem kleinen Mütterchen – nur unvorsichtig ist sie, und steigt zuviel im Haus herum und faßt zuviel an, und drum sollte sie am sichersten im Bett bleiben.[857]

SOPHIE. Nein, nein, nur das nicht. Nur nicht im Bett bleiben.

MUTTER. Das ist ja auch nicht notwendig. Ich weiß ja, du magst viel lieber dein verrücktes Canapee. Wart, ich hol gleich ein Kissen und eine warme Decke herunter.

SOPHIE wehrt ab.

MUTTER. Nichts. Da ziert man sich nicht. Mein Frauchen setzt sich jetzt hier her und schaut sich die Zeitung an – Drückt sie in einen der Fauteuils vorn und legt eine Zeitung auf den runden Tisch. und wartet bis ich wiederkomme und ihr das Lager bereite; und dann stellen wir einen bequemen Stuhl hart an das schiefe Canapee – aber das sag ich erst bis ich komme, – für wen.

SOPHIE nickt lächelnd.

MUTTER. Und nur wenn sie recht brav war. Küßt die Tochter, – rechts ab.


Sophie sitzt eine Weile da, reglos, so wie man sie hingesetzt hat. Dann erhebt sie sich, indem sie sich mühsam an den Lehnen des Fauteuils emporstemmt, geht mit tappenden Schritten vor den Spiegeltisch, steckt sich das Haar zurecht, läßt dann die Arme in ohnmächtiger Schlaffheit herabfallen und tritt in das nahe Fenster. Draußen ist der herbstliche Park sichtbar. Der Sturm heult im Kamin. Sie schaut eine Weile hinaus, preßt dann das Tuch vor die Augen und weint leise. Pause.


MUTTER kommt mit Kissen und Decke unter dem Arme durch die Türe rechts zurück, und sieht zuerst nach dem Fauteuil im Vordergrund, in welchem sie die Tochter zurückgelassen hat. Erstaunt. Was – spielt das Frauchen Verstecken? Sie wirft[858] Kissen und Decke auf den Stuhl. Ich will sie schon finden, ich ... Bemerkt die Tochter im Fenster; diese kommt mit mattem Lächeln nach vorn.

MUTTER. Was das aber schon wieder ist; so nah beim Fenster! Wo die kalte Luft hereinkommt. So ein Leichtsinn.

SOPHIE. Das schadet mir nicht. Ich hab nur sehen wollen.

MUTTER. Was denn? Es ist ja häßlich draußen.

SOPHIE. Gestern war noch eine Aster in unserm Garten Mit einer Gebärde der Hilflosigkeit. ist schon – fort.

MUTTER. Ende Oktober. – Komm, Während sie die Kissen schlichtet. leg dich her, damit ich dich zudecken kann.

SOPHIE. Schon wieder liegen.

MUTTER. Du bist ja jetzt wieder eine ganze Weile auf den Beinen gewesen, hast einen großen Spaziergang gemacht bis ans Fenster, und warst leichtsinnig wie, immer. Es ist Zeit, daß du dich wieder ausruhst.

SOPHIE folgt. Ausruhen.

MUTTER legt die warme, grüne Decke vorsichtig über sie. Gut so?

SOPHIE nickt.

MUTTER. Soll ich dir vorlesen aus der Zeitung?

SOPHIE. Nein, danke. Das interessiert mich nicht. Es ist ja so weit von mir, alles das. Erzähl mir lieber ....

MUTTER. Also – zuerst das von früher. Rückt einen Fauteuil herbei. Siehst du, da stell ich jetzt einen Stuhl ganz nah zu dir her. Und vorläufig setz ich mich drauf. Aber er ist nicht für mich. Vielleicht schon in einer halben Stunde sitzt wer anderer drin – rat mal wer?

SOPHIE. Bleib du nur, Mama ...[859]

MUTTER. Nein, Kind, ich muß ja nach Hause. Heute bin ich ohnehin ungewöhnlich lang ausgeblieben und der, welcher kommt, ist dir auch viel lieber.

SOPHIE nachsinnend. Lieber – nein ...

MUTTER. Doch, doch, glaub ich. Rat nur erst mal. Pause.

SOPHIE sich plötzlich aufrichtend.Nein – nein. Er soll nicht kommen. Er soll nicht kommen. Sag es ihm.

MUTTER erschrocken. ?

SOPHIE. Ich mag ihn nicht sehn. Es war doch ein großes Unrecht. Es war sicher eine Sünde.

MUTTER. Wen meinst du denn, Kind?

SOPHIE ihren Gedanken folgend. Er hat sie begraben in geweihter Erde und hat ihr den Segen gegeben. Und er hat doch gewußt, daß sie in Sünden gestorben ist und mit Willen ....

MUTTER. Du darfst deinen alten Lehrer nicht verdammen.

SOPHIE. Sie ist mit Willen gestorben.

MUTTER. Er hat Mitleid gehabt mit ihr, und sie war verwirrt.

SOPHIE erregt. Warum lügt ihr denn alle? Ihr wißt es doch. Die Agla war so klar wie ich und wie du, als sie ins Wasser ist ... und der Hochwürden hats auch ganz gut gewußt. Nein – ich kann, ich will ihn nicht sehen. Bitte!

MUTTER. Beruhige dich, Sophie. Er kommt auch nicht. – Ganz jemand anderer ....

SOPHIE aufatmend. Jemand – anderer ....

MUTTER horcht. Und ich glaube – da ist er schon.[860]

SOPHIE lauscht, setzt sich auf, sieht gespannt nach der Tür, – sie geht auf und Ernst stürmt hastig herein. Ernst?

ERNST bleibt ein paar Schritte vorher stehen. Ah – bin ich gelaufen.

MUTTER zu Sophie. Nun ist das nicht eine Überraschung.

SOPHIE verständnislos. Ja, – warum? ...

ERNST begrüßend. Ja – – guten Morgen, Mama, – guten Morgen, Sophie. Küßt ihr Hand und Stirne. Es giebt heute einmal weniger zu tun ... und da darf ich doch wohl ...? Stockt verlegen.

MUTTER. Nun, ich kann jetzt beruhigt gehn. Ich weiß dich jetzt in guten Händen.

SOPHIE umarmt die Mutter sehr innig.

MUTTER. So mein Kind. Nun schön stille daliegen! Brav sein! Und du Zu Ernst. sei streng mit ihr. Sie reicht Ernst die Hand und sieht ihn fest an; sie tauschen einen Blick des Verstehens – Ernst will sie zur Türe geleiten.

MUTTER. Bleib nur! Adieu, Kinder.

SOPHIE nickt. Mit Gott, Mama. Mutter ab.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 4, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 857-861.
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