29.

[168] Wie Venus mit dem Feuerstab'

Dem Liebsten beste Hilfe gab,

Dass er die Ros' zu küssen eilt,

Die Lieb' zu sänft'gen unverweilt.


Als Gutempfang das Feuer sieht

Des Stabes, er nicht mehr verzieht,

Daß er den Kuß gestatten thut,

Dies machte Venus und die Gluth.

Da nahm ich mir nicht lange Muß',

Und einen würzig süßen Kuß

Nahm von der Ros' ich unversehrt.

So hatt' ich Wonne unverwehrt,

Da drang ein Duft mir in das Herz,

Der draus verjagte allen Schmerz,

Und süß macht alles Liebeleid,

Das nicht mehr bitter schien zur Zeit.

So wohl war mir zu keiner Feist,

Beglückt ist, wer die Blume küßt,[169]

Die riecht so würzig und so fein.

Ich leide nimmer wieder Pein,

Denn denk' ich dran, füllt mir die Brust

Alsbald auch Trost und Freud' und Lust;

Und dennoch hab' seit jener Zeit

Erduldet ich so manches Leid;

Seitdem die Rose ich geküßt.

Wie nie die See so ruhig ist,

Daß sie nicht trübte bald ein Wind.

So wechselt Amor auch geschwind.

Jetzt einiget, jetzt trennet er –

Die Liebe fähret hin und her.


Nun ist es Recht, daß ich Euch sag'

Den Strauß, den mit der Scham ich pflag,

Von der ich ward gar sehr gequält,

Und wie die Burg dann ward bestellt,

Und all' das Schloß gar stark und reich,

Das Amor fing durch seinen Streich.

Die ganze Mähr' ich vor Euch lege,

Und bin zum Schreiben nicht zu träge.

Ich wähn' zu freuen dergestalt

Die Schöne, die mir Gott erhalt',

Und sie auch gibt mir den Entgelt

Wie Niemand sonst, wann's Ihr gefällt.

Argmund, der manchem Liebsten leicht

Den Anschlag und den Sinn beschleicht,[170]

Und alles Arge wohl bewahrt,

Der hat es gar zu wohl gewahrt,

Wie Gutempfang mich ließ heran;

Und ferner nicht mehr schweigen kann,

Denn wie der Sohn vom alten Grimm

So hatt' ein Maul er arg und schlimm,

Das scharf und bitterlich verwund't.

Thät Alles schnell dem Vater kund.

Argmund von ferne und von nah

Begann mich zu befehden da,

Und sagte, daß er's wohl durchdrang,

Wie zwischen mir und Gutempfang'

'Ne üble Uebereinkunft wär'.

So sprach er denn gar ohne Ehr',

Von mir und von des Adels Frucht.

Und so erweckt er Eifersucht,

Sie sich alsbald voll Furcht erhob,

Da sie vernommen sein Getob'.

Und als sie aufgerichtet stand,

Kam sie wie toll herzugerannt

Auf Gutempfang, der wäre froh,1

Wär' er zu Estampes oder Meaus.

1

Auf Gutempfang, der gern entrückt

Zum Himmel wär' und Lust beglückt.

L. d. F.

Quelle:
Guillaume de Lorris: Das Gedicht von der Rose. Berlin 1839, S. 168-171.
Lizenz:

Buchempfehlung

Anonym

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Die vorliegende Übersetzung gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert wieder, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammlungen ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon