12.

An Herrn D. Gessner, Jetzigen Prof. Math. und Physices und Canonic. Carolin. in Zürich

[108] 1733.


Dieses Gedicht wurde von besondern Umständen eines werthen Freundes veranlasst. Die Verdienste des rechtschaffenen Mannes, dem es zugeschrieben ist, waren damals wohl mir, eben sowohl als itzt, aber nicht der Welt, noch seinen Mitbürgern genug bekannt.


Mein Gessner! die Natur erwacht,

Sie schwingt die holde Frühlings-Tracht

Um die nun lang entblößten Glieder!

Wie, daß dann unser Sinn auch nicht

Des Unmuths öden Winter bricht?

Kömmt dann für uns kein Frühling wieder?
[109]

Sieh, wie die trunknen Auen blühn!

Die Wälder deckt ein schöners Grün,

Als das, so sie im Herbst verloren;

Die dürrsten Anger werden bunt,

Ein jeder Busch hat seinen Mund,

Wir aber sind ohn Aug und Ohren.


Nein, lege deinen Unmuth ab!

Der macht sich aus der Welt ein Grab,

Der ihre Lust nicht will genießen;

Wär unser Herz von Eckel leer,

So würde bald ein Wollust-Meer

Aus jedem Hügel in uns fließen.


Des Pöbels niedriger Verstand,

Bemüht um eigne Plag und Tand,

Mag ein zu edles Gut verachten;

Wie aber kann ein freier Geist,

Der aus des Wahns Gefängniß reißt,

In diesem Paradiese schmachten?


Zwar alle sind wir ein Geschlecht,

Der Weise hat kein eigen Recht,

Sein Joch ist jedem auferleget;

Das Schicksal kennt uns allzuwohl,

Es weiß, wo es uns treffen soll,

Wir müssen fühlen, wann es schläget.
[110]

Wie thöricht kömmt mir jener vor,

Der bei des Zeno buntem Thor

Verschwur die Menschheit und die Thränen;

Wie sehr er litt, so schrie er noch,

Die Schmerzen sind kein Uebel doch,

Und knirschte heimlich mit den Zähnen.1


Doch wann vom Loos der Sterblichkeit

Die Weisheit uns nicht ganz befreit

Und auch ein Antonin erlieget;

So lobt man doch den Steuermann,

Wann schon ein grimmiger Orcan

Zuweilen alle Kunst besieget.


Aus unsrer eignen Thorheit quillt,

Warum man oft das Schicksal schilt,

Es zückt aus Huld uns seine Gaben,

Ein jeder hasst sein eigen Loos,

Der Wahn macht falsche Güter groß,

Daß wir zum weinen Ursach haben.


Das Herz kann niemals müßig sein,

Es wird bei ungewissem Schein

Nach seinem Glücke hingetrieben[111]

Wann es nicht ächte Güter findt,

So lässt es sich, als wie ein Kind,

Ein Tand- und Tocken-Werk belieben.


Wie bei der Lampen düstrem Brand

Uns jedes Glas scheint ein Demant,

Sehn wir beim Feuer der Begierden;

Die Weisheit gleicht dem Sonnen-Strahl,

Sie zeigt der Dinge kleinstes Mahl

Und findet die verborgnen Zierden.


Die Weisheit öffnet unsern Sinn,

Sie sieht ins innre Wesen hin

Und lehret aus Erkenntniß wählen;

Sie findet Lust und Ruh zu Haus

Und gräbt aus uns die Güter aus,

Die nimmer eckeln, nimmer fehlen.


Wie dem, der vom Olympus sieht,

Der Menschen Pracht in nichts verflieht,

Und stolze Schlösser werden Hütten;

Die grösten Heere scheinen ihm,

Als wann, mit lächerlichem Grimm,

Um einen Halm Ameisen stritten:


So sieht in unzerstörter Ruh

Ein Weiser auch den Menschen zu

Und lacht der mühsamen Geberden,

Wann ihr Geschwärm den Platz verengt

Und sich um einen Tand verdrängt,

Worüber keiner froh wird werden.
[112]

Wir fliehn vor uns in das Gewühl,

Der Welt Gelärme hat zum Ziel,

Uns nicht bei uns allein zu lassen;

Was thut ein Griech an Multans Fluß?2

Daß er sich selbst nicht sehen muß

Und, wann er sich gekennet, hassen.


Wen einst der Wahrheit Liebe rührt,

Wird edlern Welten zugeführt

Und sättigt sich mit Engel-Speise;

Im nähern wächst der Wahrheit Zier,

Mit dem Genuß steigt die Begier,

Und der Besitz ist in der Reise.


Du! dessen Geist, mit sichrer Kraft,

Den Umkreis mancher Wissenschaft

Mit einem freien Blick durchstrahlet,

Du hast, o Gessner! in der Brust

Ein Gränzen-loses Reich von Lust,

Das Silber weder schafft, noch zahlet.


Bald steigest du auf Newtons Pfad

In der Natur geheimen Rath,

Wohin dich deine Meß-Kunst leitet;

O Meß-Kunst, Zaum der Phantasie!

Wer dir will folgen, irret nie;

Wer ohne dich will gehn, der gleitet.
[113]

Bald suchst du in der Wunder-Uhr,

Dem Meister-Stücke der Natur,

Bewegt von selbst-gespannten Federn;

Du siehst des Herzens Unruh gehn,

Du kennst ihr eilen und ihr stehn

Und die Vernutzung an den Rädern.


Bald eilst du, wo die Parce droht,

Und scheinest in der nahen Noth,

Wie in dem Sturm Helenens Brüder;

Dein Anblick hebt die Schwachen auf,

Ihr Blut besänftigt seinen Lauf,

Mit dir kömmt auch die Hoffnung wieder.


Bald lockt dich Flora nach der Au,

Wo tausend Blumen stehn im Thau,

Die auf dein Auge buhlend warten;

Auch auf der Alpen kühler Höh

Liegt für dich unterm tiefen Schnee

Ein ungepflanzter Blumen-Garten.


Ich aber, dem zu höherm Flug

Das Glück die Flügel niederschlug,

Will mich am niedern Pindus setzen;3

Da irr ich in dem grünen Wald

Um einen Ton, der richtig schallt

Und dich, o Gessner! kann ergötzen.


O könnt ich mit dem starken Geist,

Den noch die Welt am Maro preist,[114]

Ein ewig Lied zur Nachwelt schreiben:

So solltest du und Stähelin

Bis zu den letzten Enkeln hin

Ein Muster wahrer Freunde bleiben!

1

Posidonius, der, als Pompejus ihn an der Gicht liegend besuchte, schrie: Vergebens wüthe sein Pein, er werde niemals bekennen, daß der Schmerz ein Uebel sei.

2

Alexander, den die Unruh seiner Seele bis in das äußerste Morgenland trieb, um durch das beständige Geräusch der Waffen und den schmeichelnden Zuruf seiner Triumphe die Regung des Gewissens und die unerwünschten Ueberlegungen zu betäuben.

3

Der zwar ein ziemlicher Berg an sich selbst ist, mit unsern Alpen aber in keine Vergleichung kömmt.

Quelle:
Albrecht von Haller: Gedichte, Frauenfeld 1882, S. 108-115.
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Versuch Schweizerischer Gedichte
Versuch schweizerischer Gedichte: Nachdruck der elften vermehrten und verbesserten Auflage Bern 1777

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