Der Traum
Eine Allegorie

[357] Durch dunkle Schatten lenkt' ich meine Schritte,

Es ging mein treuer Freund zur Seite mir,

Er hörte meine ängstlich inn'ge Bitte

Und weilte nur zu meinem Besten hier.

Da standen wir in einer Felstals Mitte,

Von dräunden Klippen eingeschlossen schier:

Mit bangem Herzen hielt ich ihn umschlossen,

Mein Haupt verbarg ich, meine Augen flossen.


Wir zitterten dem scharfen nächt'gen Winde,

Verloren in der dunkeln Einsamkeit,

Die schwarzen Wolken jagten sich geschwinde,

Die Eule laut vom Felsen niederschreit,

Nacht eng' um uns, wie eine dunkle Binde,

Ein Wassersturz, der tobend schäumt und dräut:

Ach! seufzt' ich, will kein Sternchen niederblicken,

Mit schwachem Flimmerschein uns zu beglücken?
[357]

Wie strebten wir mit Blicken durch die Schatten,

Ein Sternchen, nur ein Lichtlein zu erspähn!

Wir standen sinnend, wie zu diesen Matten

Der Gang in tiefer dunkler Nacht geschehn,

Doch, wenn wir plötzlich die Erinnrung hatten,

Entflog sie wieder in des Sturmes Wehn;

Wir waren ganz uns selber hingegeben

Und neben uns gedieh kein ander Leben.


Ach! da begann ein zärtlich Wechselstreiten,

Denn jeder will dem andern tröstlich sein,

Die Liebe soll in diesen Dunkelheiten

Entzünden einen fröhlich-süßen Schein,

Er rief: ich will, mein trauter Freund, dich leiten,

Geh kummerfrei mit mir das Bündnis ein,

Mag uns das Dunkel dunkler noch umfließen,

Es glänzt, wenn wir uns brüderlich umschließen.


Da kämpften wir, mit Blicken uns zu finden,

Zu schenken uns der Augen holden Gruß,

Und Aug' an Auge liebend festzubinden,

Die Freundschaft soll ertöten den Verdruß,

Doch, nimmer will das Dunkel sich entzünden,

Wir trösten uns durch einen Wechselkuß,

Und jeder, von dem andern festgehalten,

Ergibt sich gern den feindlichen Gewalten.


Doch ist es wohl ein Blendnis unsrer Sinnen?

Ein Sternchen liegt zu unsern Füßen da,

Wir können noch den Glauben nicht gewinnen,

So deutlich ihn auch schon das Auge sah.

Wir sehen kleine blaue Strahlen rinnen,

Die Gräser, die dem schwachen Schimmer nah

Erleuchten nun mit ihrer zarten Grüne,

Daß wunderhell das kleine Plätzchen schiene.
[358]

Und wie wir noch das Wunder nicht begreifen,

Erschimmert heller der verlorne Stern,

Wir sahen deutlich buntgefärbte Streifen,

Und hafteten auf diesem Anblick gern:

Doch kleine Punkte hin und wieder schweifen,

Und zittern eilig hier und fern und fern,

Und aus dem rätselhaften Wunderglanze

Erzeugt sich plötzlich eine schöne Pflanze.


Zwar schien sie herrlich nur in unsern Blicken,

Sie schwankt und glänzt wie wenn die Distel blüht,

Kein ander Auge würde sich entzücken,

Da uns die unbekannte Sehnsucht zieht;

Wir wollen schon die hohe Blume pflücken,

An unser Herz zu heften sie bemüht.

Sie tröstet unbegreiflich uns im Leiden,

Sie ist der Inhalt aller unsrer Freuden.


Und keiner von uns denkt darauf, zu fragen,

Was für ein Glück in dieser Blume ruht,

Vergessen sind schon alle vor'gen Klagen,

Wir fühlen neuen, kühnen Lebensmut.

Für mich will er nun alles Unheil tragen,

Ich gönne ihm das schönste Lebensgut.

Wir beugen uns, da klingt es aus der Ferne

Entzückend schön, wie ein Gesang der Sterne.


Ein neues Staunen hält den Sinn gefangen,

Indem die Melodie nun lauter klingt,

Im Busen zittert mächtiges Verlangen,

Das wie zum Horchen so zur Freude zwingt.

Die Töne sich so wundersamlich schwangen,

Und jeder Klang uns Freundesgrüße bringt,

Und zärtlich wird von allen uns geheißen

Daß wir die Pflanze nicht dem Fels entreißen.
[359]

Mit Scheu und Liebe stehn wir vor der Blume,

Des Busens Wonne regt sich sanft und mild,

Wir fühlen uns so wie im Heiligtume,

Die vor'ge Liebe dünkt uns rauh und wild.

Wir schätzen es zu unserm schönsten Ruhme,

Zu lieben, nicht zu rauben jenes Bild:

Verehrung zieht uns auf die Kniee nieder,

Die erste Liebe kehrt verschönert wieder.


Jetzt war für uns die Einsamkeit voll Leben,

Wir sehnten uns nur zu der Blume hin,

Ein freudenvolles, geisterreiches Weben

Durchläuterte den innerlichsten Sinn;

Wir fühlten schon ein unerklärbar Streben,

Nur nach dem Edelsten und Schönsten hin,

Die Wonne wollte fast das Herz bezwingen,

Wir hörten Staud' und Baum und Fels erklingen.


Wie wenn uns zarte Geister Antwort riefen,

So tönt die Stimme hold und wundersam,

Aus allen dunkeln unterird'schen Tiefen

Uns Liebesdrang und Gruß entgegenkam,

Die Geister, die noch tot in Felsen schliefen,

Erstehn, sich jeder Lebensregung nahm:

Wir waren rund vom zärtlichsten Verlangen,

Von Liebesgegenwart ganz eng umfangen.


Wie kann die Blume solchen Zauber hegen?

Sprach ich, indem ich mich zuerst besann.

Mag sie die Brust so kräftiglich erregen,

Daß ich die Welt und mich vergessen kann?

Es klopft das Herz mit neugewalt'gen Schlägen,

Der Geist dringt zum Unendlichen hinan,

Wohl mir, mein Freund, daß ich mit dir genieße,

Mit dir zugleich das schönste Glück begrüße!
[360]

Doch jener war in Wonne neu geboren,

Er lächelte mit lichtem Freundesblick;

Doch Wort und Rede war für ihn verloren,

Sein hochverklärtes Antlitz sprach sein Glück,

Nur für das Seligste schien er erkoren,

Und fand zur alten Welt nicht mehr zurück,

Er schien in weit entfernte schöne Auen

Mit hoher Trunkenheit hineinzuschauen.


Und wie ich mich an meinem Freund erfreue,

Sein Glück mich mehr als selbst mein eignes rührt,

Erleuchtet über uns die schönste Bläue,

Die Wolken teilen sich, ein Windstoß führt

Sie abwärts, heller scheint des Himmels Freie,

Das holde Licht mit Tagesglanz regiert,

Die Blume schießt empor, die Blätter klingen,

Und Strahl und Funken aus dem Kelche springen.


Bald steht sie da und gleicht dem höchsten Baume

Die Blüten, jedes Blatt entfaltet sich,

Und aus dem innren Haus, dem grünen Raume

Erstehen Engelsbilder seltsamlich,

Wir stehn und schaun dem süßen Wundertraume,

Ich frage ihn, sein Blick befraget mich,

Die Kinder haben Bogen in den Händen,

Die sie mit ziel'ndem Pfeile nach uns wenden.


Die Sehne wird mit leichter Kraft gezogen,

Der schöne Pfeil enteilet durch die Luft,

Befiedert kömmt er zu uns hingeflogen,

Er rauscht hinweg, verfliegt in ferner Kluft.

Aufs neue schon gespannt der Silberbogen,

Herüber weht ein süß-ätherscher Duft;

Wir stehen zweifelnd, und es ruft der Schöne:

Entsetzt euch nicht, die Pfeile sind nur Töne!
[361]

Wir horchten nun wie sie herüberdrangen,

Wie jeder glänzend uns vorüberfuhr,

Wie dann die Luft, der Wald, das Feld erklangen,

Mit holder Stimme red'te die Natur:

Da glühen rosenrot des Freundes Wangen,

Er spricht entzückt und tut entzückt den Schwur:

Mich ziehen fort die süß-melod'schen Wellen,

Ich will den Pfeilen mich entgegenstellen!


Da beut die Brust sich trunken allen Tönen,

Er strebt und ringt, zu künden sein Gefühl,

Er blickt mit heiterm Lächeln nach den Schönen,

Sie freun sich mehr und mehr an ihrem Spiel,

Sie wollen gern den Freund mit sich versöhnen,

Und machen ihn nur emsiger zum Ziel,

Ein jeder will den andern übereilen,

Den Liebling ganz von seinem Gram zu heilen.


Da sind sie noch im vollen muntern Streiten,

Als sich ein neuer Wunderanblick zeigt,

Vom Wipfel seh' ich Bilder niederschreiten,

Ein Geisterheer dem hohen Baum entsteigt,

Der edlen Menge, wie sie abwärts gleiten,

Sich rauschend Stamm und Ast und Wipfel neigt,

Sie kommen her, ich fühl' mein Herze brennen,

Und irr' ich? alle glaub' ich jetzt zu kennen.


Und hinter ihnen wie sie weiter gehen,

Durch Himmel, Luft und auf der Erde hin,

Glaub' ich ein weißes helles Licht zu sehen,

Der Wiese Blumen glänzen schöner drin.

Die Bäume nun wie größre Blumen stehen,

Und jeglich Wesen pranget im Gewinn,

Ist alles rund mit Poesie umgossen,

Von Lieb' und Wohllaut jedes Blatt umflossen.
[362]

Sie sind's, die hochberühmten Wundergeister,

Der Greis Homer der vorderste der Schar,

Ihm folgen Raffael, und jener Meister,

Der immer Wonne meiner Seele war,

Der kühne Brite, sieh', er wandelt dreister

Vor allen her, ihm weicht die ganze Schar, –

Sie breiteten ein schönes Licht, mit Wonne

Erscheint es weit und dunkelt selbst die Sonne.


Nun war Entzücken rund umher entsprossen,

Wir wohnen unter ihm wie unterm Zelt,

Vom Zauberschein ist alles weit umflossen,

Von süßen Tönen klingt die weite Welt,

Wohin wir gehn sind Blumen aufgeschossen,

Mit tausend Farben prangt das grüne Feld.

Es singt die Schar: Dies Glück müßt ihr uns danken,

Doch nie muß eure Liebe für uns wanken! –


Ich wachte nun aus meinem holden Schlummer,

Und um mich war der Glanz, das süße Licht:

Doch ach! o unerträglich herber Kummer,

Den vielgeliebten Freund, ihn fand ich nicht,

Ich suchte wieder den entflohnen Schlummer,

Das liebe wundervolle Traumgesicht,

Die Künstler waren noch mit Freundschaft nahe,

Doch ach! daß ihn mein Auge nicht mehr sahe!


Und soll ich nun noch gern im Leben weilen,

So bleibe du, den ich noch eh' gekannt,

Mit dem so Lust als tiefen Schmerz zu teilen

Das Schicksal schon als Knaben mich verband;

O bleib, und laß uns Hand in Hand durcheilen

Der vielgeliebten Kunst geweihtes Land,

Ich würde ohne dich den Mut verlieren,

So Kunst als Leben weiter fortzuführen.
[363]

Quelle:
Wilhelm Wackenroder: Werke und Briefe. Berlin und München 1984, S. 357-364.
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