48. Weihe der Schönheit

[295] 20. November 1794.


Die Schönheit ist des Guten Hülle;

Der Schönheit wollen wir uns freun,

Und bei der schönen Gaben Fülle

Nicht Menschen nur, auch menschlich sein.

Du, Blume, sollst uns kränzen;

Du, edler Wein, uns glänzen!

Schenk ein, o Mädchen! Schall, o Chor!

Das schöne Mädchen singt uns vor!


Chor.


Du Blume usw.


Ich schenk' in hellgeschliffne Becher

Euch gern den edlen Feiertrank;

Als weise Trinker, nicht als Zecher,

Genießt ihr menschlich mit Gesang.

Die Seele schweb' erhaben

Zum Geber aller Gaben,

Der uns dies schöne Paradies

Mit Menschensinn bewohnen hieß!


Chor.


Die Seele usw.


In tausendfacher Schönheit pranget

Nicht Blume nur, auch Blütenbaum,

Auch Frucht und Traube; daß verlanget

Der Geist, und nicht allein der Gaum.

Es blühe nicht vergebens

Die Blum' auch unsers Lebens!

Des Blattes schöne Raupe kreucht,

Entschläft, wird schöner Sylph', und steigt!


Chor.


Es blühe usw.


Wo ist er, der uns Menschen wieder

Als Waldgeschlecht nur weiden heißt,

Ohn' einmal aufzuschaun, wer nieder

Vom schönen Baum die Eichel geußt?[296]

Sein Herz erfreute nimmer

Der Blume Duft und Schimmer;

Sein Ohr, zu fühllos für Gesang,

Vernahm nur Golds- und Schellenklang!


Chor.


Sein Herz usw.


Die Harmonie gemeßner Rede

Rief Waldgeschlecht, zu baun das Feld;

Die Harmonie entschied die Fehde

Dem Volk, in Dorf und Stadt gesellt.

Durch Lieder lehrt' Erfahrung,

Und Gottes Offenbarung;

In Liedern trug der fromme Chor

Der Erstlingsopfer Dank empor.


Chor.


Durch Lieder usw.


Der Menschenrede Reiz und Klarheit

Erhob des Denkers kühnern Flug:

Von Wahrheit flog er auf zu Wahrheit,

Und sah herab auf Wahn und Trug.

Doch niemals lockt' er Hörer,

Der hohen Weisheit Lehrer;

Ward nicht in schöner Rede Bild

Ihr Götterstrahl sanft eingehüllt.


Chor.


Doch niemals usw.


Der Weise lehrt das Herz der Menge

Sich edler Menschlichkeit erfreun;

Ihm ward's, durch Red' und durch Gesänge

Ein Volkverschönerer zu sein.

Wenn gleich, durch Zwang gelähmet,

Sein armes Volk sich grämet;

Durch ihn an Geist und Sinn geklärt,

Erhebt sich's einst, der Freiheit wert.


Chor.


Wenn gleich usw.


Nicht frönet, niedres Geizes Diener,

Der freie Geist, nur Brot zu baun;

Geweiht der Schönheit, strebt er kühner

Aus unsrer Sklavenzeiten Graun.[297]

Ihm tanzt der Musen Reihen

Mit Grazien im Freien;

Und hoch entzückt, ein Grieche schon,

Bemerkt er weder Dank noch Hohn.


Chor.


Ihm tanzt usw.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 295-298.
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