Grablied des 1787. Jahres

[219] Gehab dich wohl, du liebes Jahr,

Mit deinen Monden wandelbar,

Mit deinen Tagen, Sohn der Zeit,

Zieh friedlich in die Ewigkeit.


Der Blicker in dem Himmel sah

Das Böse, das in dir geschah;

Doch sah er auch die goldne Saat

Von mancher Geist- und Herzensthat.


Er sah des Christen Widerstand,

Mit dem er Zweifel überwand;

Er sah des Glaubens hohe Macht,

Die Satans Höllengrimm verlacht;


Sah in der stummen Siedelei

Den Mann, der ohne Heuchelei

Geräuschlos manche That gethan,

Die Ruhm und Gold nicht lohnen kann.


So manche Zähre tilgtest du,

So manchem Kämpfer gabst du Ruh';

So manchem hast du tiefgefühlt

Den Schweiß im Todeskampf gekühlt.


Auch schlüpftest du ins Kerkergrab

Und streiftest manche Fesseln ab;

Auch meine hast du abgestreift!

Mit Thränen hab' ich sie beträuft.


So nimm denn diesen Thränenkuß,

O du des Jahres Genius!

Tilg unsre Schuld aus deinem Buch.

Erfleh uns Segen nur, nicht Fluch.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 219.
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