Gebet

Wie könnt' ich, Vater, noch wohl zagen,

Da deine Hand mich sichtbar führt?

Das Unglück soll mich nicht zerschlagen,

Dankbar hab' ich es oft gespürt.

Nun fühl' ich recht ein fest Vertrauen,

Ruhig auf was da kommt zu schauen;

Dein Wink ist was mich trifft, dein Ruf,

Dir hab' ich ganz mich übergeben,

Vollführend treu, was mein Beruf,

Und darf nach anderm Gut nicht streben.


So lange der Natur in Armen,

Der erstgeborne Erdensohn

An ihrer Brust nur will erwarmen,

Wo fände wohl sein Herz den Lohn?

Da muß er bald sich freun, bald weinen,

Der flücht'gen Schönheit Kranz vereinen,

Und Herz von Herzen dann getrennt,

In wüster Leere umgetrieben,

Flieht ihn das Leben, wie er's kennt,

Er fühlt den Tod in seinem Lieben.


Nun aber weiß ich, wie du leitest,

Die selber sich dir anvertraut,

Wie allen du den Weg bereitest,

Die du als Kinder hast geschaut.

Endlich erwacht vom ird'schen Schlummer,

Gewaffnet gegen Sorg' und Kummer,

Fühl' ich mit Beben die Gewalt

Des hohen Bundes im Gebete,

Wo dieser Erd' der Geist entwallt

Zu Gott als seiner Ruhestätte.


Wer einmal, Herr! dich angerufen,

Tritt ein in fremde Geisteswelt,

Kühn wandelt er die Himmelsstufen,

Wo deiner Liebe Hauch ihn hält;[375]

Ein Leuchten aus des Herzens Grunde

Knüpft ihn an dich zu ew'gem Bunde.

Frei von der ird'schen Fessel Band,

Dem weltlichen Geschick entzogen,

Leitet fortan ihn deine Hand

Durch dieses Daseins wilde Wogen.


So laß auch mich nicht untersinken,

Verdopple mir noch Kraft und Mut,

Gehorsam folg ich deinen Winken,

Dein ist mein Trachten, dein mein Blut.

Und woll'n mich Schmerzen wild ergreifen,

Der Trauer Sturmwind unstät schweifen,

So führe du mir Freunde zu,

Die dir getreu in gleicher Liebe

Ins Herz mir hauchen sanfte Ruh,

Männlich vereint mit starkem Triebe.


Mit Mut soll sich der Mann umkleiden

In dieser wilden Zeiten Sturm,

Standhaft dastehn in allen Leiden,

Im wüsten Meer ein Felsenturm;

Je grimmiger die Feinde schnauben,

So fester an den Retter glauben,

Der uns den Frühling wieder bringt,

Wenn einst die ird'sche Pforte offen,

Der Geist hinauf zum Vater dringt,

Erfüllt wird, was wir alle hoffen.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 373-376.
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