Narcissus

[331] O Nymphe! sprach Narcissus zu der Quelle,

Du Spiegel! Bett des fern und nahen Lieben!

Du Tafel, wo sich Schönheit eingeschrieben,

Und meiner Wünsch' unüberstiegne Schwelle!


Nicht thöricht mehr umarmend deine Welle

Will ich die zarte Mahlerei dir trüben,

Laß mich in mich sie faßen, bei dir drüben,

Indem ich weinend dich gelinde schwelle.


Doch wenn ich nun mich ganz in dich ergoßen:

Wer weiß, ob ich dieß Bild in mir nicht miße,

Und wieder mich aus mir hinweg muß sehnen?


Er sagt' es, und sein Leben war entfloßen,

Doch neigt, nicht mehr Narcissus, die Narcisse

Den schwanken Stiel noch stets zum Bach der Thränen.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 331-332.
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