Die frau Sorg und frau Faulkeit

[216] In der spruchweis Hans Sachsen.


1.

Eins morgens frü vor tage

ich ungeschlafen lage,

ein dürres weib eintrate,

stunt zu meiner bettstate,

die was frau Sorg genennet,

mit worten mich anrennet,

Sprach: »wilt heut nit aufwachen?

schauen zu deinen sachen?

weib und kint zu erneren

und deine reichtum meren

durch emsige arbeite?

auf! auf! auf, es ist zeite.«

Zu meim bett wart herschleichen

ein feistes weib dergleichen,

die tet frau Sorgen strafen

und sprach: »ei, laß in schlafen

und ruen in seim bette,

wan er lang reichtum hette,

kein rast noch ru darinnen,

wer wolt reichtum gewinnen!«


2.

Sorg sprach zu mir in zoren:

»ste auf, sunst bist verloren!

wiltu der Faulkeit hulden,

so mustu armut dulden.

Faulkeit tregt auf dem rücke

wol mengerlei unglücke.«

Faulkeit sprach: »fleuch frau Sorgen,

schlaf mit ru alle morgen.[217]

maniger arbeit sere

und hat doch nichts destmere.

wem der her günt sein speise,

geit ers schlafender weise.«

Sorg sprach: »die faulen hende

verarmen an dem ende;

emsig arbeit dergleiche

macht habhaftig und reiche;

darum trag ein im sumer,

das du nicht leidest kumer

in deines alters winter,

sorgfeltig spar hinhinter.«


3.

Faulkeit sprach: »gsell, merk eben,

hie ist kein ewigs leben,

du bringst nicht mer darvane,

dan speis, ru, um und ane.

wem woltst dich hart peinigen,

bleib in der ru stil ligen.«

Sorg sprach: »folg meiner lere;

wilt haben preis und ere,

so ste auf zu deim handel,

verlaß der Faulkeit wandel,

die dir reicht in dein hande

spot, laster, sünd und schande.«

Was mich frau Sorg lang wecket,

Faulkeit mich wider decket;

frau Sorg mich heftig monet,

Faulkeit mein zertlich schonet.

in irem krieg und zanken

zwiespeltiger gedanken

ich als ein richter lage

bis drei stunt auf den tage.

Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Erster Theil: Geistliche und weltliche Lieder, Leipzig 1870, S. 216-218.
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