Nächtliche Fahrt

[601] Sankt Petersburg


Damals als wir mit den glatten Trabern

(schwarzen, aus dem Orloff'schen Gestüt) –,

während hinter hohen Kandelabern

Stadtnachtfronten lagen, angefrüht,

stumm und keiner Stunde mehr gemäß –,

fuhren, nein: vergingen oder flogen

und um lastende Paläste bogen

in das Wehn der Newa-Quais,


hingerissen durch das wache Nachten,

das nicht Himmel und nicht Erde hat, –

als das Drängende von unbewachten

Gärten gärend aus dem Ljetnij-Ssad

aufstieg, während seine Steinfiguren

schwindend mit ohnmächtigen Konturen

hinter uns vergingen, wie wir fuhren –:


damals hörte diese Stadt

auf zu sein. Auf einmal gab sie zu,

daß sie niemals war, um nichts als Ruh

flehend; wie ein Irrer, dem das Wirrn

plötzlich sich entwirrt, das ihn verriet,[601]

und der einen jahrelangen kranken

gar nicht zu verwandelnden Gedanken,

den er nie mehr denken muß: Granit –

aus dem leeren schwankenden Gehirn

fallen fühlt, bis man ihn nicht mehr sieht.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 601-602.
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