Bildnis

[608] Daß von dem verzichtenden Gesichte

keiner ihrer großen Schmerzen fiele,

trägt sie langsam durch die Trauerspiele

ihrer Züge schönen welken Strauß,

wild gebunden und schon beinah lose;

manchmal fällt, wie eine Tuberose,

ein verlornes Lächeln müd heraus.


Und sie geht gelassen drüber hin,

müde, mit den schönen blinden Händen,

welche wissen, daß sie es nicht fänden, –


und sie sagt Erdichtetes, darin

Schicksal schwankt, gewolltes, irgendeines,

und sie giebt ihm ihrer Seele Sinn,

daß es ausbricht wie ein Ungemeines:

wie das Schreien eines Steines –


und sie läßt, mit hochgehobnem Kinn,

alle diese Worte wieder fallen,

ohne bleibend; denn nicht eins von allen

ist der wehen Wirklichkeit gemäß,

ihrem einzigen Eigentum,

das sie, wie ein fußloses Gefäß,

halten muß, hoch über ihren Ruhm

und den Gang der Abende hinaus.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 608.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der neuen Gedichte anderer Teil
Der Neuen Gedichte Anderer Teil
Neue Gedichte - Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Der neuen Gedichte anderer Teil