Gretchen

[199] Wie, liebes Mädchen, so allein

Versenkt in stille Klage!

Was führt dich in den öden Hayn

An Gottes Feyertage?


O, fragt nicht, guter Pilgersmann!

Fragt nicht, warum ich weine,

Hier nehmt ein kleines Opfer an,

Und lasset mich alleine.


Nein, Kind, ich nehme nichts von dir,

Auch will ich dich nicht quälen:

Allein, bey Gott! du solltest mir

Dein Leiden nicht verhehlen.


Was seh ich? Alter! – wie? mein Schmerz

Entlockt euch stille Zähren?

O, Heil dir, Mann, du hast ein Herz;

Du sollst mein Unglück hören:


Ich liebte: schön war Leonhard,

Ein Fürst von Wuchs und Gange,

Stark wie ein Baum, und dennoch zart,

Und weiß und roth von Wange.
[200]

So war er – und sein Herz dabey

So gut, so ganz mein eigen:

So ganz .... o, lieber Greis! verzeih,

Ich muß ein wenig schweigen.


Schweig, Kind. – O möchte deinen Gram

Mein Mitleid dir versüßen!

Mir ahnet schon, dein Bräutigam

Ward dir vom Arm gerissen.


Ja wohl! hier, wo wir uns entzückt

An jedem Abend fanden;

Ward er von Werbern mir entrückt,

Gott weiß aus welchen Landen.


Nun sieht der zweite Lenz mich hier

Ihm jeden Sonntag weinen;

Denn todt ist er. Ach wehe mir!

Wann wird uns Gott vereinen?...


Heut, Gretchen, heut! Dein Leonhard

Ist hier! er ist erstanden.

Ein Pilgerkleid, ein falscher Bart

Half ihm aus seinen Banden.


Er ists! ein Wonnestrom zerreißt

Mein Herz .... ich kann nicht reden –

Ach, Liebster! Halte meinen Geist;

Sonst wird mein Glück mich tödten.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 199-201.
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