Die Toleranz

[150] Der Adler hielt auf der bereiften Spitze

Des himmelhohen Kaukasus

Sein Parlament. Er legte seine Blitze

Voll Huld zu seines Thrones Fuß,

Und wog den Großen und dem Volke

Das Recht in ebnen Schalen aus.

Da fuhr, gleich einem Strahl aus einer Donnerwolke,

Ein Habicht in das Oberhaus.

Er hielt ein fremdes Thier in seinen Krallen;

Es war ein alter Kakadu,

Der Indostan verließ, um durch die Welt zu wallen.

Sir! rief dem Schach der Schnapphahn zu:

Hier ist ein arger Wicht, der dir dein Erzamt raubet,

Ein Philosoph, der den Olymp zerstört,

Der keinen Zevs und keinen Pluto glaubet,

Und nur bey seinem Brama schwört:

Ja, was noch ärger ist, er macht sich ein Gewissen,

Die Kost, die meinen König nährt,

Das Fleisch der Thiere zu genießen,

Drum halt ich ihn des Todes werth.

»Da Zevs ihn leben läßt, so laß auch ich ihn leben.«[151]

Versetzt der gute Schach, und winkt ihn loszugeben.

Der Inquisitor barst vor Wuth;

Allein das Hofgesind, zumal die Papageyen,

Der Virtuos aus Calekut,

Und die beredte Gänsebrut

Vergötterten in wilden Melodeyen

Des Königs Toleranz und Edelmuth.

Schweigt, rief der Potentat, so derb zur bunten Heerde,

Daß ihr der kalte Schweiß entrann,

Ein Fürst, der nicht verfolgt, ist noch kein Gott der Erde,

Ist weiter nichts als kein Tyrann.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 150-152.
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