5. Der 42. Psalm


Auff die Weise deß 24.

[172] Dem Herren der Erdkreiß zusteht.


Gleich wie ein Hirsch mit schneller Flucht

Ein frisches Quell im Walde sucht

Und embsig läufft nach kühlen Bächen;

So ist auch meine Seel', o Gott,

Sie dürstet nach dir in der Noth

Und sehnet sich, dich anzusprechen.


Sie stirbt für Durst und wündscht zu sein

Umb ihren Gott; er ists allein

Durch den ihr Trauren wird benommen.

Ach, soll ich dann nicht bald hin gehn

Und ihm für seinen Augen stehn,

Will nicht der schöne Tag schier kommen?
[172]

Ich weine durch die gantze Nacht

Und wann der Tag sich zu uns macht

So sind mein Morgenbrod die Threnen;

Dieweil man allzeit zu mir spricht:

Wo ist dein Gott? nun kömpt er nicht,

Nach dem du dich so pflegst zu sehnen.


Mein Hertze springt im Leib' entzwey,

Wann ich bedencke, wie ich sey

In meines Gottes Hauß getretten

Und wie ich voller Freudigkeit

Umbringt vom Volcke für der Zeit

Geopffert habe mit Gebeten.


Doch sorge nicht, wirff alles hin,

O meine Seel', und hoff' auff ihn:

Warumb wilst du solch Leidt erweisen?

Er lebet noch und wird sich bald

Erzeigen als dein Auffenthalt,

Und du wirst ihn in Kürtzen preisen.


Mein Geist ist gantz bestürtzt in sich,

Weil ich, mein Gott, gedenck' an dich

Und muß verjagt ins Elendt gehen,

Hier wo man jenseit den Jordan

Den Misarsberg auff wüster Bahn,

Und Hermons Hübel siehet stehen.


Doch wann ein schwartzer Abgrund schon

Den andern rufft, daß auch darvon

Nichts unerschüttert bleibt auff Erden,

Wann gleich der tieffen Schleusen Schaum

So hoch schlägt, daß die Felsen kaum

Für ihm erblicket mögen werden,


Wann alle deine Ströme sich

Erhüben und bedeckten mich

Mit ihrem Sturm und rauen Wellen,

So würde doch mein Athem hier,

Mein Geist der würde für und für

Auff dich nur seine Hoffnung stellen.


Ich weiß, daß deine Gütigkeit

Sich liesse sehn bey Tagezeit,

Daß ich befreyt von andern Dingen

Mit Ruh hernachmals auff die Nacht

Von deiner Güt' und grossen Macht,

O höchster Vatter, köndte singen.


Mein Felß, auff den ich gantz gebaut,

O Gott, dem meine Seele traut,

Will ich mit Eyfer zu ihm sagen:

Gedenckst du dann an mich jetzt nicht?

Gestehst du, daß mein Hertze bricht,

In dem die Feinde mich so plagen?


Es scheint ein scharffes Schwerd zu seyn

Und dringet mir durch Marck und Bein,

Wann ich die grosse Schmach muß hören,

Daß mich der Feind in meiner Noth

Noch höhnt und spricht: Wo ist dein Gott,

Den du so heilig pflegst zu ehren?


Doch sorge nicht; wirff alles hin,

O meine Seel', und hoff' auff ihn;

Warumb wilst du solch Leidt erweisen?

Er lebet noch und wird sich bald

Erzeigen als dein Auffenthalt,

Und du wirst ihn mit Freuden preisen.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 172-173.
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