Einsiedel

[176] »Was pocht mir an das Fenster?

Was klopft an meine Tür so laut?«

– »Ich bin ein junger Wildfang

Und naß bis auf die Haut.


Ich bin der Gerold Wendel,

Wir ziehen an den Hof zu zwein,

Der andre ist ein Konrad

Und nennt sich Lützelstein.


Der duckt sich etwo anders

Vor Blitzgezuck und Wetterzorn

Und bläst mich morgen munter

Mit seinem Jägerhorn.


Einsiedel, frommer Bruder,

Ihr sehet, wie es um mich steht!

Gewährt mir Euer Lager

Und sprecht mein Nachtgebet!«


Er lallt es, halb entschlummert,

Und streckt die Glieder aus zur Ruh,

Einsiedel deckt sein Lämpchen

Mit beiden Händen zu.


»Wie lieblich ist die Jugend!

Hätt ich ein Füllhorn voller Glück,

Ich leert es dir zu Häupten,

Es bliebe nichts zurück.«
[176]

Der Schlummrer wird zum Träumer,

In hast'gen Worten redet er,

Lacht, weint in einem Atem

Und wirft sich hin und her.


– »Ich habe Blut vergossen!«

Einsiedel faßt besorgt ihn an.

»Du träumst nicht gut. Erwache!

Die Augen aufgetan!«


Er starrt mit wilden Blicken.

»Mein Kind, wie hast du mich erschreckt!«

– »Einsiedel, frommer Bruder,

Ich bin mit Blut bedeckt.


Wir saßen unter Linden,

Ich und der Konrad Lützelstein,

Ein Fräulein von dem Hofe

Bot lachend uns den Wein.


Sie streift' mich mit dem Ärmel,

Die binsenschlank gewachsen war,

Sie hatte schnelle Augen

Und aschenblondes Haar.


Sie streift mich mit der Achsel

Und lispelt mir ins Ohr hinein

›Wilt, junger Edelknabe,

Mein Trautgeselle sein?‹


Da schwang man einen Reigen,

Sie reigte mit dem Lützelstein –

›Wilt, junger Edelknabe,

Mein Trautgeselle sein?‹


Mir schwoll die Brust vor Eifer,

Ein Hader reißt die Klingen bloß –

›Herzbruder, mein Herzbruder,

Gabst mir den Todesstoß!‹«...
[177]

Einsiedel mahnt: »Erwache!«

Und schiebt zurück sein Fensterlein.

Da strömt mit Tannendüften

Ein Erdgeruch herein.


Und horch, ein Hifthorn schmettert

Und eine frische Stimme schallt:

»Wo steckt der Gerold Wendel?

Den such ich durch den Wald!«


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 176-178.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Bozena

Bozena

Die schöne Böhmin Bozena steht als Magd in den Diensten eines wohlhabenden Weinhändlers und kümmert sich um dessen Tochter Rosa. Eine kleine Verfehlung hat tragische Folgen, die Bozena erhobenen Hauptes trägt.

162 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon