Die Jungfrau

[16] Wo sah ich, Mädchen, deine Züge,

Die drohnden Augen lieblich wild,

Noch rein von Eitelkeit und Lüge?

Auf Buonarottis großem Bild:


Der Schöpfer senkt sich sachten Fluges

Zum Menschen, welcher schlummernd liegt,

Im Schoße seines Mantelbuges

Ruht himmlisches Gesind geschmiegt:


Voran ein Wesen, nicht zu nennen,

Von Gottes Mantel keusch umwallt,

Des Weibes Züge, zu erkennen

In einer schlanken Traumgestalt.
[16]

Sie lauscht, das Haupt hervorgewendet,

Mit Augen schaut sie, tief erschreckt,

Wie Adam Er den Funken spendet

Und seine Rechte mahnend reckt.


Sie sieht den Schlummrer sich erheben,

Der das bewußte Sein empfängt,

Auch sie sehnt dunkel sich, zu leben,

An Gottes Schulter still gedrängt –


So harrst du vor des Lebens Schranke,

Noch ungefesselt vom Geschick,

Ein unentweihter Gottgedanke,

Und öffnest staunend deinen Blick.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 16-17.
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