Der Wald

[195] – me gelidum nemus

Secernit populo.

Horat.


Herrlich ists im Grünen!

Mehr als Opernbühnen

Ist mir Abends unser Wald,

Wenn das Dorfgeläute

Dumpfig aus der Weite

Durch der Wipfel Dämmrung hallt.
[195]

Hoch aus mildem Glanze

Streut im leichten Tanze

Mir das Eichhorn Laub und Moos;

Fink' und Amsel rauschen

Durch die Zweig' und lauschen

Rings im jungen Maigesproß.


Fern am Ellernholze

Grast in Ruh' der stolze

Kronhirsch längs dem Weidendamm;

Ueberhüllt von Laube

Girrt die Ringeltaube

Im Gerank am Eichenstamm.


In der Abendhelle

Funkelt die Libelle,

Sanft am Farrenkraut gewiegt;

Mückenschwärm' erheben

Sich aus Binsengräben

Und der braune Schröter fliegt.


Iris und Ranunkel

Blühn im Weidendunkel,

Wo durch Tuf die Quelle schäumt,

Die mit Spiegelglätte

Dort im Rasenbette

Wies' und Birkenthal umsäumt.


Ob dem Felsenpfade

Schimmert die Kaskade,

Wie ein flatternd Silberband.

Hell durch Laubgewimmel

Blinkt der Frühlingshimmel,

Und der Berge Schneegewand.


Zauberisch erneuen

Sich die Phantaseyen

Meiner Kindheit hier so licht![196]

Rosenfarbig schweben

Duftgebild', und weben

Ein elysisch Traumgesicht.

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 195-197.
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