Mailied

[6] 1776.


Nachtigallen flöten

Durch die Lenzgebüsche,

Wann die Sonne sinkt!

Nachtigallen flöten

Durch die Apfelbäume,

Wann das Morgenroth erwacht!


Weis und rothe Blüten

Kleiden alle Wipfel,

Wo die Biene sumt;[6]

Grüne Kräuter duften

In den Wiesenthalen,

Wo das Maienlämchen gras't!


Mädchentänze schweben

Ueber Blumenrasen,

Unter Flötenklang!

Seht! von Jünglingsküssen

Glüht die volle Wange.

Und der holde Rosenmund!


Lustgefühl und Wonne

Winkt die junge Freude

Sanft in jedes Herz!

Ihrem Zauberstabe

Huldigt alles Wesen,

Bis zum niedren Staubgewürm!


Ha! die süsse Göttin

Schwebt an meine Seite,

Beut mir ihren Arm,

Führt mich zu den Tänzen,

Zu den Mädchenküssen

Und zum frohen Kelchgelag!


Ihrer Leitung fröhlich,

Will ich stets des Maien

Mich fortan erfreun!

Eh' sein linder Odem

Durch die Trauerkränze

Meines Aschenhügels weht.

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 6-7.
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