Sehnsucht

[768] In dieser Winterfrühe

Wie ist mir doch zumut!

O Morgenrot, ich glühe

Von deinem Jugendblut.


Es glüht der alte Felsen,

Und Wald und Burg zumal,

Berauschte Nebel wälzen

Sich jäh hinab das Tal.


Mit tatenfroher Eile

Erhebt sich Geist und Sinn,

Und flügelt goldne Pfeile

Durch alle Ferne hin.


Auf Zinnen möcht ich springen,

In alter Fürsten Schloß,

Möcht hohe Lieder singen,

Mich schwingen auf das Roß!


Und stolzen Siegeswagen

Stürzt ich mich brausend nach,

Die Harfe wird zerschlagen,

Die nur von Liebe sprach.


– Wie? schwärmst du so vermessen,

Herz, hast du nicht bedacht,

Hast du mit eins vergessen,

Was dich so trunken macht?


Ach, wohl! was aus mir singet,

Ist nur der Liebe Glück!

Die wirren Töne schlinget

Sie sanft in sich zurück.


Was hilft, was hilft mein Sehnen?

Geliebte, wärst du hier!

In tausend Freudetränen

Verging' die Erde mir.
[768]

Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 768-769.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1867)
Gedichte
Der Nacht ins Ohr. Gedichte von Eduard Mörike.Vertonungen von Hugo Wolf. Ein Lesebuch von Dietrich Fischer-Dieskau
Sämtliche Gedichte in einem Band
Die schönsten Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)