An mein Vaterland

[142] Wie fern, wie fern, o Vaterland,

Bist du mir nun zurück!

Dein liebes Angesicht verschwand

Mir, wie mein Jugendglück!


Ich steh allein und denk an dich,

Ich schau ins Meer hinaus,

Und meine Träume mengen sich

Ins nächtliche Gebraus.


Und lausch ich recht hinab zur Flut,

Ergreift mich Freude schier:

Da wird so heimisch mir zumut,

Als hört ich was von dir.


Mir ist, ich hör im Winde gehn

Dein heilig Eichenlaub,

Wo die Gedanken still verwehn

Den süßen Stundenraub.


Im ungestümen Wogendrang

Braust mir dein Felsenbach,

Mit dumpfem, vorwurfsvollem Klang

Ruft er dem Freunde nach.


Und deiner Herden Glockenschall

Zu mir herüberzieht

Und leise der verlorne Hall

Von deinem Alpenlied.


Der Vogel im Gezweige singt,

Wehmütig rauscht der Hain,

Und jedes Blatt am Baume klingt

Und ruft: gedenke mein! –


Als ich am fremden Grenzefluß

Stillstand auf deinem Saum,[143]

Als ich zum trüben Scheidegruß

Umfing den letzten Baum


Und meine Zähre trennungsscheu

In seine Rinde lief:

Gelobt ich dir die ewge Treu

In meinem Herzen tief.


Nun denk ich dein, so sehnsuchtschwer,

Wo manches Herz mir hold,

Und ströme dir ins dunkle Meer

Den warmen Tränensold! –

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 142-144.
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