Das letzte Lied

[31] Nach dem Griechischen, aus dem Zeitalter Philipps von Mazedonien


Fern ab am Horizont, auf Felsenrissen,

Liegt der gewitterschwarze Krieg getürmt.

Die Blitze zucken schon, die ungewissen,

Der Wandrer sucht das Laubdach, das ihn schirmt.

Und wie ein Strom, geschwellt von Regengüssen,

Aus seines Ufers Bette heulend stürmt,

Kommt das Verderben, mit entbundnen Wogen,

Auf alles, was besteht, herangezogen.


Der alten Staaten graues Prachtgerüste

Sinkt donnernd ein, von ihm hinweggespült,

Wie, auf der Heide Grund, ein Wurmgeniste,

Von einem Knaben scharrend weggewühlt;

Und wo das Leben, um der Menschen Brüste,

In tausend Lichtern jauchzend hat gespielt,

Ist es so lautlos jetzt, wie in den Reichen,

Durch die die Wellen des Kozytus schleichen.


Und ein Geschlecht, von düsterm Haar umflogen,

Tritt aus der Nacht, das keinen Namen führt,

Das, wie ein Hirngespinst der Mythologen,

Hervor aus der Erschlagnen Knochen stiert;[31]

Das ist geboren nicht und nicht erzogen

Vom alten, das im deutschen Land regiert:

Das läßt in Tönen, wie der Nord an Strömen,

Wenn er im Schilfrohr seufzet, sich vernehmen.


Und du, o Lied, voll unnennbarer Wonnen,

Das das Gefühl so wunderbar erhebt,

Das, einer Himmelsurne wie entronnen,

Zu den entzückten Ohren niederschwebt,

Bei dessen Klang, empor ins Reich der Sonnen,

Von allen Banden frei die Seele strebt;

Dich trifft der Todespfeil; die Parzen winken,

Und stumm ins Grab mußt du daniedersinken.


Erschienen, festlich, in der Völker Reigen,

Wird dir kein Beifall mehr entgegen blühn,

Kein Herz dir klopfen, keine Brust dir steigen,

Dir keine Träne mehr zur Erde glühn,

Und nur wo einsam, unter Tannenzweigen,

Zu Leichensteinen stille Pfade fliehn,

Wird Wanderern, die bei den Toten leben,

Ein Schatten deiner Schön' entgegenschweben.


Und stärker rauscht der Sänger in die Saiten,

Der Töne ganze Macht lockt er hervor,

Er singt die Lust, fürs Vaterland zu streiten,

Und machtlos schlägt sein Ruf an jedes Ohr, –

Und da sein Blick das Blutpanier der Zeiten

Stets weiter flattern sieht, von Tor zu Tor,

Schließt er sein Lied, er wünscht mit ihm zu enden,

Und legt die Leier weinend aus den Händen.


Quelle:
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Band 1, München 1977, S. 31-32.
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