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[88] Es schneit und eist den ganzen Tag,

Der Frost umfängt mich scharf und blank;

Und wie ich mich gebärden mag –

Nun liegt sie wirklich ernsthaft krank!


Verödet ist das Paradies,

Das sonst auf ihrem Angesicht;

Nur zitternd blieb und ungewiß

Der Augen mildes Sternenlicht.


Nur wenn ich alle Tag einmal

An ihrem Krankenlager bin,

So fällt ein heitrer, klarer Strahl

Auf meine feuchten Augen hin.


Und wenn wir so beisammen sind,

Dann lieb ich still sie anzuschaun[88]

Und träumend ob dem lieben Kind

Den Frühling wieder aufzubaun!


Noch ziert den Mund ein leichtes Rot

Und immer eines Kusses wert –

Sie läßt's geschehen, weil die Not

Die Menschenkinder beten lehrt.


»Ich lieb nicht deinen feinen Mund,

Nur deine Seele ganz allein –

Im Frühling wollen wir gesund

Und beide wieder fröhlich sein!«


Und wenn der Arzt kommt, lügen wir

Ihn tröstlich voller Hoffnung an;

Doch hab ich heimlich neben ihr

Zu Gott manch heiß Gebet getan.


Das ist der erste Kummer, so

Mir schwer und ernst ins Leben bricht;

Wie werd ich wieder leicht und froh,

Wenn ihm der Lenz das Urteil spricht!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 88-89.
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