Eigenschaften der Sapho

[316] Halberstadt, den 19. Februar 1762.


Wollen Sollen Rollen Kleid Gequollen Möglichkeit Aufgeschwollen Wiederrollen Zollen Zeit.


Nicht immer will ich so, wie andre Leute wollen,

Die nicht Gesetze geben sollen

Der Sapho, der Empfindungsvollen,

Die um den schönen Geist nicht trägt ein schönes Kleid,

Der in den Adern ist ein Dichter-Quell gequollen

Zu aller Lieder Möglichkeit,

Der hoch von Zärtlichkeit der Busen aufgeschwollen,

Die aus den Augen oft läßt Thränen nieder rollen,[316]

Dem Himmel ihren Dank zu zollen

Für diesen goldnen Theil in ihrer Lebenszeit.


Gedichtet in einer halben Viertelstunde. Als sie beim Ausfüllen dieser Endreime mitsprechen wollte, und man ihr sagte, sie hätte ja genug zu schreiben, antwortete sie:


Aufblicken ist ja kein Verbrechen;

Hier denken kann ich schon, und dort mit Thyrsis sprechen.


Anmerk. Man wird fast aus allen der Dichterin vorgeschriebenen Endreimen sehn, daß man darauf ausging, sie zu einem Quodlibet zu verleiten, allein ihr stets gegenwärtiger Geist wußte sich auch hier augenblicklich zu ordnen.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 316-317.
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