Jeremias Klage bei dem Anblick der Flucht seines Volkes aus dem Elsas

[229] Jeremias, der vor Zeiten

Der Chaldäer Kriegesgrausamkeiten

Und den Jammer Zions sang –

Jeremias in dem Himmel

Mischte Klagen unterm Harfenklang,

Da vom Elsaß ein Getümmel

Und ein Angstgeschrei empor

Drang bis in das Seraphchor,

Da des Aufruhrs fürchterliche Rotte

Seinem Volke schrecklich war.

Nackend, unter bittrem Spotte

Trieb die wuthbeflammte Schaar[229]

Das beraubte Volk von hinnen,

Und es konnte durch die Flucht

Lebensrettung kaum gewinnen

Für den Grimm der Räubersucht.


»Gott, du bist die Liebe selber,

Rief der Klagesänger aus

Goß dies Volk sich goldne Kälber?

Lief es in ein Götzenhaus?

Trat es dein Gesetz mit Füßen?

Baute sichs Altäre dort,

Ein Trankopfer auszugießen?

Sprachs zu Holz und Stein: Du Hort

Meines Heils! Hilf mir, und neige

Doch dein Ohr zu meinem Flehn!

Gott, warst du des Frevels Zeuge?

Hat dein Auge dies gesehn?

Und hast du im Zorn befohlen,

Daß wie ein gescheuchtes Reh,

Ohne Athemholen

Dieses Volk mit Ach und Weh

Fliehen soll an der Welt Ende? –

Gott, Erbarmer! siehe drein;

Mache, daß der Zorn sich wende!

Laß wie vormals mächtig seyn

Deine Liebe, dein Erbarmen![230]

Siehe, siehe da, die Armen,

Weib und Greis und Kinder fliehn

Voller Todesfurcht und Schrecken:

Wer, o wer wird sie bedecken?

Welche Hülfshand wird sie ziehn

Von dem Rande des Verderbens?

Welches Zoar nimmt sie auf

In der Angst des Hungersterbens?

Und wo endet sich ihr Lauf? –«


So sprach der Prophet, und sehet

Die Erbarmung würkte schon

Mächtig eh er ausgeflehet.

Zitternd war das Volk entflohn,

Bebend kam es an die Thore

Basels, einer Schweizerstadt,

Die sonst mit verschloßnem Ohre

Sich hinweggewendet hat,

Wenn sich ein Israelite

Nur von fernher merken ließ,

Daß er dort um Eingang bitte.

Aber nun wars ihr so süß,

Sich zu öffnen; und die Schwachen,

Und das Weib, das jetzt gebar,

Durch Erquickung stark zu machen,

Nun ward Basel ein Altar[231]

Frommer Toleranz, wo Speise,

Trank und Kleid geopfert ward

Auf Gott angenehme Weise.

Und nun scholl nach Davids Art

Lob aus des Propheten Munde,

Und auf Gottes Erdenrunde

Unter allen Himmeln weit

Tönt auch Basels Menschlichkeit.
[232]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 229-233.
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