Auf den Tod des Schauspielers Hermann Müller

[50] Dies Haus und wir, wir dienen einer Kunst,

Die jeden tiefen Schmerz erquicklich macht

Und schmackhaft auch den Tod.


Und er, den wir uns vor die Seele rufen,

Es war so stark! Sein Leib war so begabt,

Sich zu verwandeln, daß es schien, kein Netz

Vermöchte ihn zu fangen! Welch ein Wesen!


Er machte sich durchsichtig, ließ das Weiße

Von seinem Aug die tiefste Heimlichkeit,

Die in ihm schlief, verraten, atmete

Die Seele der erdichteten Geschöpfe

Wie Rauch in sich und trieb sie durch die Poren

Von seinem Leib ans Tageslicht zurück.

Er schuf sich um und um, da quollen Wesen

Hervor, kaum menschlich, aber so lebendig –

Das Aug bejahte sie, ob nie zuvor

Dergleichen es geschaut: ein einzig Blinzeln,

Ein Atemholen zeugte, daß sie waren

Und noch vom Mutterleib der Erde dampften!

Und Menschen! Schließt die Augen, denkt zurück!

Bald üppige Leiber, drin nur noch im Winkel

Des Augs ein letztes Fünkchen Seele glost,

Bald Seelen, die um sich, nur sich zum Dienst

Ein durchsichtig Gehäus, den Leib, erbauen:

Gemeine Menschen, finstre Menschen, Könige,

Menschen zum Lachen, Menschen zum Erschaudern –

Er schuf sich um und um: da standen sie.


Doch wenn das Spiel verlosch und sich der Vorhang

Lautlos wie ein geschminktes Augenlid[50]

Vor die erstorbne Zauberhöhle legte

Und er hinaustrat, da war eine Bühne

So vor ihm aufgetan wie ein auf ewig

Schlafloses aufgerißnes Aug, daran

Kein Vorhang je mitleidig niedersinkt:

Die fürchterliche Bühne Wirklichkeit.

Da fielen der Verwandlung Künste alle

Von ihm, und seine arme Seele ging

Ganz hüllenlos und sah aus Kindesaugen.

Da war er in ein unerbittlich Spiel

Verstrickt, unwissend, wie ihm dies geschah;

Ein jeder Schritt ein tiefrer als der frühere

Und unerbittlich jedes stumme Zeichen:

Das Angesicht der Nacht war mit im Bund,

Der Wind im Bund, der sanfte Frühlingswind,

Und alle gegen ihn! Nicht den gemeinen,

Den zarten Seelen stellt das dunkle Schicksal

Fallstricke dieser Art. Dann kam ein Tag,

Da hob er sich, und sein gequältes Auge

Erfüllte sich mit Ahnung und mit Traum,

Und festen Griffs, wie einen schweren Mantel,

Warf er das Leben ab und achtete

Nicht mehr, denn Staub an seines Mantels Saum,

Die nun in nichts zerfallenden Gestalten.


So denkt ihn. Laßt ehrwürdige Musik

Ihn vor euch rufen, ahnet sein Geschick,

Und mich laßt schweigen, denn hier ist die Grenze,

Wo Ehrfurcht mir das Wort im Mund zerbricht.
[51]

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Erste Reihe in drei Bänden, Band 1, Berlin 1924, S. 50-52.
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