Die Frage der Sehnsucht

[505] Herr, unser Gott, wann kommt Dein Reich?

Wir warten sein so lange!

Wir beten: »Zu uns komm' Dein Reich!«

Und ist uns sehnlich bange.


Der Frevler höhnt, der Spötter lacht,

Der Fromme seufzt vergebens

Am Morgen und in Mitternacht:

»Wo bleibst Du, Fürst des Lebens?«


Du sprachst: »Ich komm', ich komme bald

Mit großem Lohn und Strafen.«

Wo ist, wo ist Dein Aufenthalt?

Die Väter sind entschlafen.


Sie hofften, seufzten auch, wie wir,

Und legten sich danieder;

Wir hoffen, seufzen auch nach Dir,

Und Du erscheinst nicht wieder!


Bist Du zu Deines Vaters Hand,

Wo Du Dein Reich genommen,

Und siehst nicht mehr Dein Erdenland

Und kannst nicht wiederkommen?


Und Deine Lehre wär' ein Traum

Und unser Wunsch verloren,

Und wir erstürben wie der Baum?

O besser, nie geboren!


Wo sind sie, die Dich je geliebt,

Für Dich ihr Leben gaben

Und hofften, die Du hier betrübt,

Du würdest dort sie laben?


Sind sie in Deines Vaters Reich,

In Deinem Freudensaale,

Und wünschen uns nicht auch zugleich

Zum ew'gen Abendmahle?


Der Frevler höhnt, der Spötter lacht,

Der Böse triumphiret,

Und Du, Herr, hast noch nicht vollbracht,

Hast's noch nicht ausgeführet,
[506]

Wofür Du lebtest, littest, starbst

Und auferstandest wieder

Und Dir, ein Haupt zu sein, erwarbst!

Hier sind wir, Deine Glieder!


Sind ohne Deinen Geist und Kraft

Verwelkte, todte Glieder;

Beleb uns, Himmels-Lebenssaft,

Und weck, erweck uns wieder!


Wir fordern nicht, wir wünschen nur:

Laß unsre Lampen brennen,

Und wollst, o Herr der Creatur,

Uns einst die Deinen nennen!


Ob Gott verzeucht, so harre sein,

Er wird gewißlich kommen!

Sein Ja ist Ja! sein Nein ist Nein!

Er hat das Reich genommen


Und ist zu seines Vaters Hand

Und kommt, ein König, wieder;

Und die er nieden sein genannt,

Sind ewig seine Glieder.


Er theilt mit ihnen Herrlichkeit

Und Freudenmahl und Krone

Und winkt, daß Jeder heut, schon heut

In seiner Hütten wohne


Und pfleg' im Himmel Bürgerschaft

Und bet' und ihm vertraue

Und herrsche hier in seiner Kraft,

Bis droben er ihn schaue.


Gebet und Glaube, Hoffnung, Muth

Und stilles Thun und Leiden

Sind uns hienieden Himmelsgut

Und Vorschmack jener Freuden,


Die er für uns, für uns erwarb,

Als, auch von Gott verlassen,

Er für die Treugeliebten starb,

Sie ewig zu erfassen.
[507]

Und ließ uns hier sein Abendmahl,

Sein Wort: »Ich komme wieder!«

Und sprach zu seiner kleinen Zahl:

»Lebt, sterbet mir, Ihr Brüder!«


Wir leben Dir, wir sterben Dir,

Dich wieder bald zu sehen;

Dir leben wir, Dir sterben wir;

Dein Wort kann nicht vergehen.


Bald, unser Leben, ach! ist bald

Ein Nichts, ein Traum verschwunden;

Komm bald, Du ew'ger Aufenthalt!

Geht hin, Ihr kurzen Stunden!

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 505-508.
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