Das Ehrwürdige bei dem Tode einer Greisin

[422] Sie starb! Die Hülle brach! ihr Geist, zur Ewigkeit

Durch langes Leben schon bereitet,

Entwand sich aus der Hülle irdisch Kleid

Und fuhr hinauf, vom Seraphim geleitet;

Nur unten weint

Die Menschen-, Freund- und Kindeszähre.

O Du, des Alters Tod, der Menschheit Ehre,

Sei mir mein Lehrer und mein Freund!


Die Welt liegt hinter ihr; selbst ihre Rosen waren

Umdornt, umringt ihr Gold von tödtenden Gefahren;

Doch jetzt ist jede Dorn, die Blut von ihrer Wunde trug,

Ein blühnder Rosenzweig im neuen Kronenschmuck.

Gezählt ward jede Thrän', die sie der Menschheit zollte;

Jetzt ist's ein Perlenkranz, was ihr vom Auge rollte.

Des Lebens Trank hat sie gelabet und erfreut;

Sein Glück, sein Wunsch und Thun ist – Eitelkeit.


O, wie ruht sanft ihr Herz, von keinem Wurm zernaget,

Von keinem Dolch zerwühlt, von Ottern ungeplaget,

Von nichts zurückgezerrt, was hier im Leben blieb,

Weil jedes Demantband das Alter längst zerrieb!

Kein Wunsch flammt mehr empor wie aus des Aetna Schlunde;

Der Sturm der Leidenschaft entschlief im stillen Grunde.

O, solch ein Augenblick ist (wär' er mir gewährt!)

Mehr als ein Leben voll, ja zehn voll Glückes werth.


Halb Engel und halb Mensch (mein großes Maaß will wanken),

Sieht sie in unsre Tief' vom höchsten Erdgedanken

Und blickt zu Gott empor, roth, wie einst Moses glüht,

Wenn er, halb Mensch, halb Geist, den Unsichtbaren sieht.

O Schattenpunkt, umschränkt von Zeit und Ewigkeiten,

Wie ist's, wenn man von Dir ein dunkel Feld von weiten

Breit unabsehbar sieht, hört dunkler Flüsse Ton

Und Geisterstimmen hört und sieht des Richters Thron!


O wohl, Dich kennt der Christ, der Ewigkeit nie scheute,

Nie, weil er s' scheut, verflucht, oft, weil sie ihn erfreute,

Gewünscht, gehofft, erfleht, oft schon entzückt geschaut,

Wenn er im Feu'rgebet in Salem Hütten baut.[423]

Er legt die Bürde ab, den Pilgerstab zerbrochen,

Die ganze Pflicht erfüllt, den letzten Feind gerochen.


Schon schallt sein Ohr den Engelston;

Fernher getroffen, hört und singt

Er mit das Lied, das ihm Triumph zuwinkt

Vom Ueberwinderthron!

Schallt, was kein Ohr gehört, kein Dichter nachgesungen:

»Komm her, o Knecht! Sieh Palmen, Dir errungen!«

Er sieht's und jauchzt und stirbt. O, wer jauchzt ihm nicht nach

Und lernt, wie sterbend auch sein Mund erhaben sprach!

Sein bestes Monument sind stille Herzensthränen,

Aufs edle Grab geweint, der Seufzer stilles Sehnen,

Was in der Einsamkeit herauf der Engel trägt,

An seinen Busen drückt und vor den Herren legt.

Doch auch die Thräne sieht ihr neuverklärter Blick

Mit hoher Wehmuth an und wünscht ihr – weises Glück!

Erkämpft ihr Trost von Dem, der jede Zähr' verwischet,

Sie zählt und in den Kelch der Leiden Wonne mischet.

So wünscht die Himmlische, stark, bis sie Gott erweicht;

Und wo ein Engel wünscht, da stirbt mein Trost und – schweigt.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 422-424.
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