Auf ein erröthendes junges Mädchen, das ich im Louvre sah

[213] Ich ließ mein Auge auf dem deinen ruh'n,

Da ward zur Purpurflamme dein Gesicht;

Du warst ein Kind, ein Mädchen bist du nun,

So weig're auch die Mädchenfrucht mir nicht.


Dein Mund ist reif jetzt für den ersten Kuß,

Er gleicht der Herzenskirsche, die zersprang

Vor aller Feuersäfte letztem Schuß,

Und nun verspritzt, was sie so heiß durchdrang.


Ich hab' ein Recht auf ihn, ich hab' in dir

Die Glut, die ihn gezeitigt hat, geweckt,[213]

Drum raub' ich ihn mit kecker Lippe mir,

Wie Vögel Beeren, die kein Laub mehr deckt.


Vielleicht vollendet dieser Kuß mein Glück,

Du wirst durch ihn dir deiner ganz bewußt,

Und wie du Mädchen wardst vor meinem Blick,

So wirst du auch noch Weib an meiner Brust!


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 213-214.
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