2. Der levitische Mann

[168] Zu der Zeit, da Israel verwaist war

und kein Richter richtete in Juda,

wohnte, an der Seite des Gebirges

Ephraim, ein Mann vom Stamme Levi,

der gewann aus Bethlehem eine Jungfrau,

die er heim zu seiner Hütte führte.


Aber diese brach dem Mann die Treue.

Und sie flüchtete vor seinem Zorne

wieder zu dem Hause ihres Vaters

und verbarg sich dort vor ihm vier Monde.


Und vier Monde rang mit seinem Zorne

der Levit. Dann stand er auf und zog ihr

nach, auf dass er freundlich mit ihr rede,

wieder sie zu seinem Eigen hole.


Und er sah sie, und sie führte schweigend

ihn in ihres Vaters Haus. Mit Freuden

ward er aufgenommen und bewirthet,

reuig fügte sich das Weib, und gastlich

hielt der Vater ihn von Tag zu Tage:

erst nach einer Woche brach er wieder

auf, mit seinem Weibe heimzuwandern.
[169]

Bleibe noch! so sprach des Weibes Vater:

Sieh, der Tag lässt ab – es naht der Abend.

Bleibe noch die Nacht, dass auf dem Wege

sie euch nicht erreiche. Schweres bringt oft

dunkle Nacht dem Menschen. Morgen frühe

ziehet eures Weges in die Heimath!

Aber jener folgte nicht der Warnung,

sondern zog mit seinem Weib von dannen.


Da sie nun des Weges schritten, ging die

Sonne ihnen unter vor Gibea,

die da liegt in Benjamin. Sie kehrten

ein daselbst, dass sie zur Nacht dort blieben.


Auf der Gasse zu Gibea setzte

der Levit sich nieder mit dem Weibe:

niemand war, der Obdach bot den Müden,

Schutz im Hause vor der Nacht Gefährden.


Sieh, da kam ein alter Mann des Weges,

von der Arbeit, da es auf den Feldern

dunkelte: der war wie sie ein Fremdling

zu Gibea, stammend vom Gebirge

Ephraim. Und da er seine Augen

aufhob und den Mann sah auf der Gasse,

fragte er: Wo willst du hin und woher

kommst du? Und da jener es gemeldet,

sprach er: Friede sei mit dir; du findest,

was du suchst, bei mir, in meiner Hütte.[170]

Bleibet nur nicht hier: es ist des Volkes

kein Verlass und sinnen arge Dinge.


Freundlich führt er sie zu seinem Hause,

lud sie ein und liess sie ihre Füsse

waschen und an Speis und Trank sich laben.


Da ihr Herz nun guter Dinge wurde

und vergassen der bestandnen Mühsal,

kamen Leute aus der Stadt Gibea,

böse Buben, und umgaben lärmend

rings das Haus und pochten an die Thüre.


Bring den Mann heraus, den du beherbergst,

riefen sie, auf dass wir ihn erkennen!

Denn es trieb sie frevelnde Begierde

nach dem fremden Manne.


Und der Hauswirth

trat hinaus und sprach zu ihnen: Leute,

lieben Brüder, thut nicht also Übles!

Als ein Gast betrat er meine Schwelle,

fordert nicht von mir solch grosse Sünde!


Aber jene hörten nicht, sie tobten

um so lauter nur. Da sprach der Hauswirth:

Höret! Eine Tochter hab ich, Jungfrau

ist sie noch, von keinem Mann berühret,[171]

jener aber hat ein Weib – die beiden

bring ich Euch heraus: mögt Ihr sie greifen

und nach Eurer Lust mit ihnen fahren –

aber thut nicht solche grosse Sünde!


Jene hörten nicht auf ihn. Doch drinnen

hatte der Levit das Wort vernommen.

Und er griff sein Weib und trug es selber

ihnen vor die Thür. Da fielen gierig

sie es an und schleppten es von dannen.

– – – – – – – – – – – – – – – –


Hart vor morgen kam das Weib gegangen.

Nieder fiel sie vor der Thür des Hauses,

drin ihr Herr war. Ohne Regung lag sie

vor der Thür am Boden, bis es Licht ward.


Da ihr Herr am Morgen nun herausging,

dass er seines Weges weiter zöge,

lag sein Weib da, vor der Thür des Hauses,

und die Hände lagen auf der Schwelle.


Und er sprach: Steh auf und lass uns wandern.

Aber jene gab ihm keine Antwort,

sondern schwieg und lag da vor der Thüre,

und die Hände lagen auf der Schwelle.


Und er hob sie auf und lud die Todte

auf ein Maulthier, und so ging es weiter,

und sie kamen wieder in die Heimath.
[172]

Und er nahm ein Messer und zerstückte

seines Weibes Leib mit Rumpf und Gliedern

in zwölf Stücke. Und an alle Stämme

Israels entsandte er die Stücke.


Und der Zorn Jehovahs traf die Frevler.

Benjamin zerschlug des Schwertes Schärfe,

und verbrannt mit Feuer ward Gibea.


Doch verloren im Gewölk der Zeiten

ist der blutige Name des Leviten

und verloren seines Weibes Namen.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 168-173.
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