Der 25. Psalm
Nach dir, o Herr, verlanget mich

[155] 1.

Nach dir, o Herr, verlanget mich,

Du bist mein Gott, ich hoff auf dich,

Ich hoff und bin der Zuversicht,

Du werdest mich beschämen nicht.


2.

Der wird zu Schanden, der dich schändt

Und sein Gemüte von dir wendt,

Der aber, der sich dir ergibt

Und dich recht liebt, bleibt unbetrübt.


3.

Herr, nimm dich meiner Seelen an

Und führe sie die rechte Bahn,

Laß deine Wahrheit leuchten mir

Im Steige, der uns bringt zu dir.


4.

Denn du bist ja mein einigs Licht,

Sonst weiß ich keinen Helfer nicht,

Ich harre dein bei Tag und Nacht:

Was ists, das dich so säumend macht?
[155]

5.

Ach wende, Herr, dein Augen ab

Von dem, wo ich geirret hab.

Was denkst du an den Sündenlauf,

Den ich geführt von Jugend auf?


6.

Gedenk an deine Gütigkeit

Und an die große Süßigkeit,

Damit dein Herz zu trösten pflegt

Das, was sich dir zu Füßen legt.


7.

Der Herr ist fromm und herzlich gut

Dem, der sich prüft und Buße tut,

Wer seinen Bund und Zeugnis hält,

Der wird erhalten, wenn er fällt.


8.

Ein Herz, das Gott von Herzen scheut,

Das wird in seinem Leid erfreut,

Und wenn die Not am tiefsten steht,

So wird sein Kreuz zur Wonn erhöht.


9.

Nun, Herr, ich bin dir wohlbekannt,

Mein Geist, der schwebt in deiner Hand,

Du siehst, wie meine Seele tränt

Und sich nach deiner Hilfe sehnt.


10.

Die Angst, die mir mein Herze dringt

Und daraus soviel Seufzer zwingt,

Ist groß; du aber bist der Mann,

Dem nichts zu groß entstehen kann.


11.

Drum steht mein Auge stets nach dir

Und trägt dir mein Begehren für.

Ach laß doch, wie du pflegst zu tun,

Dein Aug auf meinen Augen ruhn.
[156]

12.

Wenn ich dein darf, so wende nicht

Von mir dein Aug und Angesicht,

Laß deiner Antwort Gegenschein

Mit meinem Beten stimmen ein.


13.

Die Welt ist falsch, du bist mein Freund,

Ders treulich und von Herzen meint,

Der Menschen Gunst steht nur im Mund,

Du aber liebst von Herzensgrund.


14.

Zerreiß die Netz, heb auf die Strick

Und brich des Feindes List und Tück,

Und wenn mein Unglück ist vorbei,

So gib, daß ich auch dankbar sei.


15.

Laß mich in deiner Furcht bestehn,

Fein schlecht und recht stets einhergehn;

Gib mir die Einfalt, die dich ehrt

Und lieber duldet als beschwert.


16.

Regier und führe mich zu dir,

Auch andre Christen neben mir,

Nimm, was dir mißfällt, von uns hin,

Gib neue Herzen, neuen Sinn.


17.

Wasch ab all unsern Sündenkot,

Erlös aus aller Angst und Not,

Und führ uns bald mit Gnaden ein

Zum ewgen Fried und Freudenschein.

Quelle:
Paul Gerhardt: Dichtungen und Schriften, München 1957, S. 155-157.
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