Der 139. Psalm
Herr, du erforschest meinen Sinn

[189] 1.

Herr, du erforschest meinen Sinn

Und kennest, was ich hab und bin,

Ja, was mir selbst verborgen ist,

Das weißt du, der du alles bist.


2.

Ich sitz hier oder stehe auf,

Ich lieg, ich geh auch oder lauf:

So bist du um und neben mir,

Und ich bin allzeit hart bei dir.


3.

All die Gedanken meiner Seel,

Und was sich in der Herzenshöhl

Hier reget, hast du schon betracht,

Eh ich einmal daran gedacht.


4.

Auf meiner Zunge ist kein Wort,

Das du nicht hörest allsofort,

Du schaffests, was ich red und tu,

Und siehst all meinem Leben zu.


5.

Das ist mir kund. Und bleibet doch

Mir solch Erkenntnis viel zu hoch,[189]

Es ist die Weisheit, die kein Mann

Recht aus dem Grunde wissen kann.


6.

Wo soll ich, der du alles weißt,

Mich wenden hin vor deinem Geist?

Wo soll ich deinem Angesicht

Entgehen, daß michs sehe nicht?


7.

Führ ich gleich an des Himmels Dach

So bist du da, hältst Hut und Wach,

Stieg ich zur Höll und wollte mir

Da betten, find ich dich auch hier.


8.

Wollt ich der Morgenröten gleich

Geflügelt ziehn, so weit das Reich

Der wilden Fluten netzt das Land,

Käm ich doch nie aus deiner Hand.


9.

Rief ich zu Hilf die finstre Nacht,

Hätt ich doch damit nichts verbracht;

Denn laß die Nacht sein wie sie mag,

So ist sie bei dir heller Tag.


10.

Dich blendt der dunkle Schatten nicht,

Die Finsternis ist dir ein Licht,

Dein Augenglanz ist klar und rein,

Darf weder Sonn noch Mondenschein.


11.

Mein Eingeweid ist dir bekannt,

Es liegt frei da in deiner Hand,

Der du von Mutterleibe an

Mir lauter Lieb und Guts getan.


12.

Du bists, der Fleisch, Gebein und Haut

So künstlich in mir aufgebaut;[190]

All deine Werk sind Wunder voll,

Und das weiß meine Seele wohl.


13.

Du sahest mich, da ich noch gar

Fast nichts und unbereitet war,

Warst selbst mein Meister über mir

Und zogst mich aus der Tief herfür.


14.

Auch meiner Tag und Jahre Zahl,

Minuten, Stunden allzumal

Hast du, als meiner Zeiten Lauf,

Vor meiner Zeit geschrieben auf.


15.

Wie köstlich, herrlich, süß und schön

Seh ich, mein Gott, da vor mir stehn

Dein weises Denken, was du denkst,

Wenn du uns deine Güter schenkst!


16.

Wie ist doch des so trefflich viel!

Wenn ich bisweilen zählen will,

So find ich da bei weitem mehr

Als Staub im Feld und Sand am Meer.


17.

Was macht denn nun die wüste Rott,

Die dich, o großer Wundergott,

So schändlich lästert und mit Schmach

Dir so viel Übels redet nach?


18.

Ach, stopfe ihren schnöden Mund!

Steh auf und stürze sie zu Grund!

Denn weil sie deine Feinde seind,

Bin ich auch ihnen herzlich feind.


19.

Ob sie gleich nun hinwieder sehr

Mich hassen, tu ich doch nicht mehr,[191]

Als daß ich wider ihren Trutz

Mich leg in deinen Schoß und Schutz.


20.

Erforsch, Herr, all mein Herz und Mut,

Sieh, ob mein Weg sei recht und gut,

Und führe mich bald himmelan

Den ewgen Weg, die Freudenbahn.

Quelle:
Paul Gerhardt: Dichtungen und Schriften, München 1957, S. 189-192.
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