890. An Nanda Keßler

[367] 890. An Nanda Keßler


Wiedensahl 1. Oct. 92.


Liebe Nanda!

Ich dank Dir recht schön für die guten schriftlichen Momentaufnahmen aus deiner nächsten Umgebung. – Ob's Dräthchen wohl hält eine Weil? – Irgendwo, per Schirm in den Sand gezeichnet, sah ich eine Lebenslinie, die, wo mir recht erinnerlich, etwa so verlief. –

Will auch mein gutes Nellichen mal schreiben an den Onkel, so soll's eine Freud sein für ihn. Kinderbriefe, falls sie »echt« sind, laßen sich ja angenehm lesen und beantworten. Von den »souflirten« aber stehet geschrieben: einer beantwortet und dann nie keiner mehr. –

Und so seid ihr denn gesund und sitzt so recht unter dem Füllhorn des Herbstes. Auch uns hat er bedacht mit Zwetschenkuchen und Sonnenschein, ja mit Blitz und Donner sogar. Doch schon, dahin daher im Feld, gehen die Pflüge für's Winterkorn. Melancholischer bereits pfeifen die Hirtenbübchen; die Spinnen filegräniren in jedem Gezweig; ein Mal bereits hat's a bißel gereift über Nacht – ein etwas schärferer Kniff, und der Kastanienboom läßt rieselnd die Blätter fallen. –

Morgen gehen die Ferien zu End. Unsere liebe Else, unser hübsches gescheidts Gretchen, die beiden Neffen, gehen hin, wo sie hergekommen.

Sodann saust, wie's üblich ist, der Onkel nach Celle, Wolfenbüttel und Ebergötzen, um sich hernach einzudachseln für den Winter.

Leb wohl, liebe Nanda, und sei sammt den Prachtkindern recht herzlich gegrüßt vom

verständigen

Onkel Wilhelm.


N.B.

Frau Müller, auf Grund ihrer »vegetabilischen« Einsicht, hat die beschuldigten Regenwürmer wohl genügend gerechtfertigt inzwischen, und die heimische Palme, vielleicht erschlafft unter gar zu wohlwollender Behandlung bei veränderten Umständen, hält wieder die Blätter steif.


890. An Nanda Keßler: Faksimile Seite 1
890. An Nanda Keßler: Faksimile Seite 1
Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 367.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Papinianus

Papinianus

Am Hofe des kaiserlichen Brüder Caracalla und Geta dient der angesehene Jurist Papinian als Reichshofmeister. Im Streit um die Macht tötet ein Bruder den anderen und verlangt von Papinian die Rechtfertigung seines Mordes, doch dieser beugt weder das Recht noch sich selbst und stirbt schließlich den Märtyrertod.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon