Jesus


Der hi ilische Purpurwurm

[63] Zusingen nach der Weise: Da Jesus an dem Creutze stund, usw.


1.

Was ist das vor ein Jammerbild,

Das dort in Purpur eingehüllt

Am Creutzesholtze klebet?

Ein Bild mir so die Augen füllt –

Doch nein, es lebt und bebet.


2.

Ist das ein Mensch? ich gläub es nicht:

Ein Wurm mir hänget im Gesicht,

In Purpurfarb geschwämmet.

Ein stilles Leid mein Hertz anficht,

Der Schmertz die Trehnen stämmet.


3.

Was hör ich? seine Stimm erschallt.

Ist diß ein Mensch? in der Gestalt

Ward keiner je gesehen.

Seht, wie das Blut doch quillt und wallt:

Ich muß mich näher nähen.


4.

Wer ist allhier doch, den ich frag,

Der mir deß Menschen Namen sag?

Dort seh ich was geschrieben.

Was? ist diß Jesus? – ach der Plag!

Ich sterbe vor Betrüben.


5.

Gott ist es, nicht ein Mensche nur,

Der Herr und Meister der Natur,

Der Schöpfer aller Sachen.

Darff den die schnöde Creatur

Zu solchem Bilde machen?


6.

Fährt so mit ihrem Gott die Welt?

Ist daß der Printz vom Sternenzelt?

Der König aller Ehren,

Wird der hin an ein Creutz gestellt,

Kan er sich schmähen hören?


7.

Die Allmacht schwebt ohnmächtig hier,

Die Schönheit selbst ist sonder zier,

Der Helffer muß verschmachten.

Der Artzt ist kranck und stirbet schier:

Wer kan das recht betrachten?


8.

Die Striemen voller Striemen stehn,

Auff Wunden kan man Wunden sehn,

Der Leib ist lauter Schrunden,

Die stets mit Eiter übergehn

Und bluten unverbunden.


9.

Schau, welch ein Mensch, O Menschen-Kind,

Und der von wegen deiner Sünd

Ein solcher Mensch ist worden;

Er trat, daß er dich deß entbind',

In solchen Elends-Orden.


10.

Ist daß der Gott vom Himmelreich,

Der keinem Menschen sihet gleich?

Ein Wurm ist er zunennen,

Der, gantz zerquäthscht, gekrümmt und bleich,

Fast nicht mehr ist zu kennen.
[63]

11.

Herr, meine rothe Sünd hat dich

Gefärbet so erbärmiglich,

Sie ward auff dich geleget.

Ach deine Schulter büst vor mich,

Die meine Schulden träget.


12.

Die Zorneskelter tritst du heut,

Du hast schon deiner Menschheit Kleid

Im Weinbeerblut gewaschen;

Es färbet dich der rohte Streit,

Die Feinde zu erhaschen.


13.

Ja waltze dich im Elendskoth,

Ichnevmon, alsdann spring dem Tod

Dem Crocodil, in Rachen

Und beiß dich durch, die Todesnoth

Und Sünde todt zu machen.


14.

Die Sonn, deß Himmels Aug und Liecht,

Kan ihrem Gott und Schöpffer nicht

Die Augen brechen sehen;

Sie lässt, verbergend ihr Gesicht,

Die Welt im dunckeln stehen.


15.

Ich kan auch nicht mehr schauen an

Dich, du zerquälter Jammerman.

Fahr wohl! ich geh von hinnen.

Doch soll üm dich so mancher Thran

Als Blut von dir abrinnen.


16.

Stirb du, mein Leben, fahre wol,

Wann ich dich nimmer sehen sol:

Dort sprechen wir uns wieder,

Da ich dir meinen Danck für voll

Bezahle durch Loblieder.


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 5, Hildesheim 1964, S. 63-64.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.

138 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon