Homer

[243] Auf Olympos' hohem Haupte

saß der Götter seel'ge Schaar,

dunklen Wein in lichtem Golde

brachte Hebe ihnen dar.

Schweigen herrschte in der Runde

und kein Lächeln war erlaubt,

denn Kronion beugte trauernd

das umlockte heil'ge Haupt.

Heiß und roth in seinem Becher

schwamm des Weines dunkle Fluth,

Flammenschein von Trojas Brande,

Widerschein von Priams Blut.[243]

Und er hob empor den Becher,

»nimmer, sprach er, nimmerdar

ziehen fürder Opfer spendend

Trojas Knaben zum Altar,

Nimmer bringen Trojas Mädchen

Weines süße Labe mir –

diesen Becher, diesen letzten

Ilion, du geliebtes, dir!« –

In des Göttervaters Auge

flammend eine Thräne hing,

tiefes Schauern, heil'ges Beben

durch die Schaar der Götter ging,

Tiefes Schauern, heil'ges Beben

durch die Lande weit und breit,

schweigend neigte sich die Erde

vor dem großen Götterleid. –

Und es floß die heil'ge Thräne

langsam rollend erdenwärts,

unaufhaltsam, bis sie ruhte

zitternd in Homeros' Herz. –

Tief im Schlummer lag Homeros,

da ergriff's ihn bang und schwer,

und er träumt' er trüg' im Busen

das allmächt'ge Welten-Meer,

Und er träumt', in seinem Busen

küßten Sonne sich und Mond –

stürmend trieb es ihn vom Lager

und vom Haus, da er gewohnt –

Wahnsinn flog um seine Schläfen,

auf sein Auge sank die Nacht,

doch im Herzen glüht' und sprüht' ihm

unermeß'ne Weltenpracht.

Da entströmte seinen Lippen

tiefer, wonnevoller Klang –

und es war das Lied von Ilion,

das Homer den Völkern sang.

Ueber Länder, über Meere

zog der feierliche Ton,

lauschend neigte sich die Erde

vor dem großen Erden-Sohn.[244]

Um den Sitz der seel'gen Götter

schwang das Lied die Flügel her,

von der Priamiden Sterben

lauschten sie der großen Mähr.

Von dem Sessel sprang Kronion,

»füll' den Becher, Hebe, mir.

diesen Becher, diese Spende

bringe ich, Homeros, dir!

Der du mehr vermagst als Götter,

Todte rufst aus Grabes Nacht,

der du Ilion, das geliebte,

wieder mir zurück gebracht!«

Und es schwangen sich die Becher

klirrend in der Götter Hand,

rollend zog der heil'ge Donner

über das Hellenen-Land;

Bebend neigten sich die Lande

und die Völker weit und breit –

und sie ahnten, heilig schauernd,

eigene Unsterblichkeit.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 243-245.
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